Die Hudson Saga 01 - Haus der Schatten
Dann wandte sie sich an mich.
»Wie ich gehört habe, warst du diejenige, die den Arzt gerufen hat«, sagte sie zu mir.
»Ja.«
»Warum hast du nicht zuerst mich oder meine Schwester angerufen?«, wollte sie wissen.
»Ich dachte, es sei wichtig, den Arzt so schnell wie möglich zu holen, und Sie haben mir Ihre Telefonnummer nicht gegeben«, sagte ich.
»Hat meine Mutter dich gebeten, den Arzt zu rufen?«, nahm sie mich weiter ins Kreuzverhör.
»Nein.«
»Hör auf, das Mädchen wie eine gewöhnliche Kriminelle zu behandeln,Victoria«, befahl Großmutter Hudson.
Victoria starrte mich einen Augenblick an und wandte sich dann murrend ab.
»Trotzdem war es unverfroren, so etwas zu tun. Schließlich ist sie nur Gast in diesem Haus.«
»Ich tat, was ich für richtig hielt, und der Arzt ist offensichtlich meiner Meinung«, wehrte ich mich.
Sie ignorierte mich und öffnete die Aktentasche.
»Wir haben ein paar Papiere durchzusehen, Mutter, und Dokumente, die du unterschreiben musst«, sagte sie, holte eine Akte nach der anderen heraus und legte sie Großmutter Hudson zu Füßen.
»Nun?«
»Ich hatte nicht viel Zeit«, beklagte sie sich. »Du unterziehst dich einer schweren Herzoperation, Mutter. Es gibt ein paar ungeklärte Dinge wegen des Besitzes«, sagte sie.
Ich keuchte beinahe laut. Das bereitete ihr Sorgen? Ein paar ungeklärte Fragen wegen des Besitzes? Bis jetzt hatte sie noch keine einzige Frage über den medizinischen Eingriff oder die Diagnose gestellt. Sie sah, wie mir der Mund offen stehen blieb, und grinste mich dämlich an.
»Würdest du uns bitte entschuldigen«, befahl sie. »Das ist vertraulich.«
Ich schaute meine Großmutter an und stand auf.
»Es gibt keinerlei Grund, sie wegzujagen, Victoria. Du weißt, dass ich nichts unterschreibe oder tue ohne meinen Buchhalter. Bring ihm alles. Na los«, sagte Großmutter Hudson und wedelte mit den Händen, als seien die Papiere lästige Fliegen, »tu das alles weg.«
»Aber Mutter …«
»Was immer es ist, ich bin mir sicher, es kann warten«, versicherte Großmutter Hudson.
»Nicht wenn dir etwas passieren sollte«, drängte Victoria. »Dann haben wir noch größere Probleme.«
»Das ist doch schrecklich, ihr so etwas in den Kopf zu setzen. Nichts wird ihr passieren, und der Arzt sagt, sie soll nicht gestört werden, besonders heute Abend. Er hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben«, warf ich ein.
Victoria fuhr so schnell herum, dass ich von dem Luftzug fast umkippte.
»Ich dachte, ich hätte dich gebeten, zu gehen. Das ist eine Familienangelegenheit. Deine Ansichten sind für mich nicht von Belang.«
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass meine Großmutter mich mit Interesse beobachtete. Der Schlagabtausch zwischen mir und Victoria schien sie sogar zu beleben.
»Die wichtigste Familienangelegenheit ist die Gesundheit Ihrer Mutter. Ich habe dem Arzt versprochen, ich würde darauf achten, dass sie sich heute Abend entspannt. Statt mich anzuschreien, sollten Sie lieber dankbar sein«, fuhr ich sie an.
Ihr Gesicht wurde dunkelrot, während ihr die Adern im Nacken anschwollen.
Großmutter Hudson lächelte.
»Noch nie haben sich so viele Menschen um mein Wohl
gekümmert«, sagte sie. Sie schaute Victoria an. »Da möchte man ja am liebsten ewig leben.«
Victoria sah aus, als erstickte sie an einem Pfirsichkern.
»Ich versuche doch nur, das Richtige zu tun«, winselte sie. »Daddy hätte das von mir erwartet.«
Zögernd steckte sie die Akten zurück in ihre Aktentasche und schloss sie. Wenige Augenblicke später entschied sie sich, nach unten zu gehen, um sich etwas Kaltes zu trinken zu besorgen und ein paar sehr wichtige Telefonate zu führen. Ich hatte noch nie jemanden erlebt, der so geschäftig war wie sie, und sagte das Großmutter Hudson.
»Vermutlich ist die Hälfte dessen, was sie tut, unnötig«, sagte sie. »Mein Mann erreichte viel mehr mit viel weniger Aufwand.«
Ihre Lider wurden immer schwerer. Ich nahm ihr die Teetasse aus der Hand und schüttelte ihr Kissen auf. Was auch immer der Arzt ihr gegeben hatte, um sie zu beruhigen, es zeigte den gewünschten Effekt. Ich wünschte ihr gute Nacht und ging, um meine Hausaufgaben zu machen.
Etwa eine halbe Stunde später hörte ich, wie Victoria wieder nach oben kam, und öffnete meine Tür einen Spaltbreit, um zu beobachten, wie sie zu Großmutter Hudson hineinschaute. Ich wusste, dass Großmutter Hudson bereits fest schlief. Ein paar Augenblicke später stapfteVictoria zur Treppe
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