Die Hudson Saga 01 - Haus der Schatten
wärst, damit fertig zu werden. Aber du musst auch zur Schule gehen, und ich hatte nicht vor, dass du hier als Babysitter fungierst.«
Victoria schüttelte den Kopf und trank ihren Wein aus.
»Ich muss ins Büro zurück«, sagte sie und stand auf. »Du sorgst dafür, dass Grant sich diese Papiere anschaut, die ich dir letzte Woche geschickt habe?«
»Ja«, versprach meine Mutter ihr.
»Das ist nicht unwichtig, Megan.«
»Ich verspreche es. Ich kümmere mich darum«, betonte sie, aber Tante Victoria wirkte nicht sehr beschwichtigt.
»Ich werde ihn anrufen«, drohte sie und ging aus dem Wohnzimmer. An der Tür blieb sie neben mir stehen. »Ich habe am schwarzen Brett in der Küche meine Nummern hinterlassen, falls du aus irgendeinem Grund einmal etwas Wichtiges brauchen solltest. Allerdings erwarte ich, dass die Krankenschwester mich über den Zustand meiner Mutter auf dem Laufenden hält.« Sie warf einen Blick zurück zu meiner Mutter. »Zumindest musst du nicht meine Schwester anrufen und sie aus all der Entfernung hierher zitieren. Verstanden?«, hakte sie eindringlich nach.
»Ja, Ma’am.« Beinahe hätte ich strammgestanden.
Sie presste die Lippen aufeinander und ging. Als ich sah, wie sie zur Haustür hinausging, wandte ich mich meiner Mutter zu, die aber den Finger auf die Lippen legte, bevor ich etwas sagen konnte.
»Merilyn ist in der Nähe«, flüsterte sie. Sie deutete auf den Stuhl vor ihr, und ich setzte mich. »Wie geht es dir denn nun wirklich?«
Ich erzählte ihr noch einmal von meinen Noten, wie sehr ich die Reitstunden genoss und von dem Theaterstück.
»Aber kommst du auch mit meiner Mutter zurecht? Ich weiß, wie nervenaufreibend sie sein kann. Ihre Vorstellungen sind fest betoniert.«
»Wir haben einen Waffenstillstand geschlossen«, erklärte ich. »Sie tut so, als wäre sie viel härter, als sie tatsächlich ist, obwohl sie sich ständig darüber beklagt, wie junge Leute heute großgezogen werden«, sagte ich und musste an Großmutter Hudsons andere Enkel denken. »Ich hoffte, Sie würden Brody und Alison mitbringen.«
»Es fällt ihnen wirklich sehr schwer, sich von ihren üblichen Aktivitäten loszureißen. Alison muss für eine Arbeit üben; Brody hat ein großes Spiel. Ich habe entschieden, dass es besser ist, sie ein anderes Mal mitzubringen. Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Du wirst sie schon noch kennen lernen. Hast du von deiner Mutter und deinem Bruder etwas gehört?«
»Nur von Mama«, sagte ich und erzählte ihr, wo sie jetzt wohnte.
»Du solltest sie anrufen und sie wissen lassen, dass alles in Ordnung ist. Bestimmt macht sie sich Sorgen um dich.«
»Das werde ich«, sagte ich.
Sie schaute sich um, ihr müder, besorgter Gesichtsausdruck wich einem sanften Lächeln.
»Das ist ein Haus, was? Du bist in meinem alten Zimmer, nicht wahr? Ich saß spät am Nachmittag immer am Fenster und beobachtete, wie es draußen dunkler wurde.« Sie schlang die Arme um sich. »Ich fühlte mich hier so sicher. Als wären dies die Mauern einer Burg und rund um das Haus verlief ein Wassergraben. Nichts Schlimmes konnte mir hier passieren. Mein Vater würde es nicht zulassen. Er würde sofort nach Hause kommen, wenn er hörte, dass eine Träne über meine Wange rann. Ich weiß nicht, wie oft ich im Arbeitszimmer auf seinem Schoß gesessen und zugehört habe, wie er Träume für mich spann wie kleine Märchen.
Aber«, meinte sie mit einem tiefen Seufzer, »man kann nicht für andere Menschen träumen. Sobald ich zur Schule ging, dort Freunde fand und die Welt auf der anderen Seite des Wassergrabens sah, in der die Menschen nicht wie im Märchen lebten, änderten sich die Dinge. Ich enttäuschte
ihn in vieler Hinsicht«, stellte sie traurig fest, »aber es musste so sein.«
»Sie und Victoria sind so verschieden. Es fällt schwer zu glauben, dass Sie verwandt sind.«
Sie lachte.
»Sie ist zwei Jahre jünger, benimmt sich aber, als sei sie zehn oder zwanzig Jahre älter, ich weiß. Sie ist zu ernst. Das war sie schon immer. Mein Vater schenkte ihr nicht so viel Aufmerksamkeit wie mir, als wir aufwuchsen, aber später fühlte er sich anscheinend in ihrer Gesellschaft wohler als in meiner. Sie stellte seine Ansichten über Menschen und das Geschäft und den Zweck des Lebens nie in Frage. Dennoch...«, sagte sie zögernd.
»Was?«
»Ich kann an meinen Fingern abzählen, wie oft er sie mit väterlicher Zuneigung geküsst hat, während auf mich Stürme von Küssen herabregneten, dass
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