Die Hudson Saga 01 - Haus der Schatten
und warf dabei rasch einen vor Zorn glühenden Blick auf meine Tür.
Den Anblick ihrer Augen nahm ich mit in den Schlaf, bekam immer wieder Alpträume, sah Victoria überall, sogar in Washington, wo sie mit Jerad und seiner Gang, die hinter mir her war, herumlief. Sie schleppte diese verdammte Aktentasche mit sich herum und hielt sie wie einen
Schläger umklammert, bereit, mir damit über den Kopf zu schlagen.
Dr. Lewis hatte veranlasst, dass Großmutter Hudson mit einem Krankenwagen ins Krankenhaus transportiert wurde. Sie war wütend darüber und wollte wissen, warum Jake sie nicht einfach im Rolls dorthin fahren konnte.
»Ein Krankenwagen ist auch nicht bequemer und erregt nur unnötige Aufmerksamkeit.«
Ich verstand allmählich, dass Großmutter Hudson eine Krankheit für eine Schwäche hielt, etwas, dessen man sich schämen musste, und nicht etwas, das sich der eigenen Kontrolle entzog. Am liebsten würde sie ihre Schrittmacher-Operation geheim halten, ins Krankenhaus gehen und es ohne jegliches Aufsehen wieder verlassen und niemandem erzählen, was dort gemacht worden war.
Noch einmal bat ich sie um die Erlaubnis mitzufahren, aber sie verlangte noch unnachgiebiger, dass ich zur Schule gehen sollte. Gerade als ich in den Rolls stieg, um zur Schule zu fahren, traf der Krankenwagen ein. Jake beobachtete, wie die Krankenpfleger die Treppe hinaufeilten.
»Wartet ab, bis ihr sie kennen lernt«, prophezeite er. »Sie wird sie schon bremsen.« Er warf mir einen Blick zu. »Keine Sorge. Sie wird nicht sterben, bis sie so weit ist.«
Ich nickte. Damit konnte er durchaus Recht haben. Sie hatte den Mumm, dem Sensenmann mutig entgegenzutreten und ihm zu sagen, dass er wieder nach draußen gehen und warten solle, bis er angemessen vorgestellt worden ist.
Den größten Teil des Tages fiel es mir schwer, dem Unterricht meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit zu widmen. Meine Blicke wanderten immer wieder zur Uhr.
Manche Lehrer dachten vermutlich, ich würde mich in ihrem Unterricht langweilen und wartete auf das Ende der Stunde. Die Mittagspause kam und ging, der Nachmittagsunterricht begann.
Ich hatte halb erwartet und gehofft, dass meine Mutter in der Schule anrufen und mich informieren würde, wie Großmutters Operation verlaufen war, aber niemand rief an.
Mein Pferd, Flagler, schien zu spüren, wie abgelenkt ich war, und wackelte ständig mit dem Kopf oder zog während der Stunde an den Zügeln. Ohne jeden Grund fiel es in Trab, und ich hopste wie eine Gummipuppe im Sattel auf und ab, dass Mr Drewitt lachen musste. Als ich abstieg, sagte er mir, dass ich gehe wie ein O-beiniger betrunkener Seemann.
In der Probe war ich schrecklich, ließ ganze Zeilen aus, vergaß Positionen und Bewegungen auf der Bühne und sprach so leise, dass ich in der ersten Reihe kaum zu verstehen war. Maureen war bei dieser Probe und lächelte jedes Mal zufrieden, wenn Mr Bufurd mich an etwas erinnern oder mich bitten musste, mich stärker in die Rolle hineinzuversetzen.
»Geht es dir nicht gut?«, flüsterte Audrey mir zu, als wir beide in den Seitenkulissen standen.
»Nein, ich mache mir Sorgen um Mrs Hudson. Sie bekommt heute Morgen einen Schrittmacher.«
»Oh. Wenn sie sterben würde, würde dir doch jemand Bescheid sagen, oder?«, fragte sie ohne viel Gefühl.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. Ich wusste es wirklich nicht.
»Wenn sie stirbt, gehst du dann zurück nach Washington?«
»Ich weiß es nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, aber darüber mache ich mir keine Sorgen.«
Sie warf mir einen weiteren Blick zu und biss sich dann auf die Unterlippe.
»Ich hoffe, du wirst nicht zurückgeschickt«, sagte sie. »Du spielst so gut in dem Stück.«
»Ich finde, Mrs Hudsons Leben ist ein wenig wichtiger als dieses Stück, oder?«, fauchte ich sie an.
»Was? Oh, ja, ich meinte nicht … ich meine … ja«, stammelte sie und ging rasch hinter die Bühne.
Sie tat mir Leid. Sie versuchte doch nur einen Weg zu finden, sich mit mir anzufreunden, aber ich hatte im Augenblick nicht die Geduld dafür. Gnädigerweise ging die Probe zu Ende.
Corbette packte mich am Ellenbogen, um mich zurückzuhalten, als ich meine Bücher holte und schnell den Gang entlangging.
»Nun?«, fragte er.
»Nun was?«
»Was ist mit morgen?«
»Oh. Das … habe ich ganz vergessen.Tut mir Leid«, sagte ich und erzählte ihm rasch, was gerade passierte.
»Sie wird schon wieder gesund«, versicherte er mir. »Mein Großvater hatte das
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