Die Hudson Saga 01 - Haus der Schatten
sagte ich und lachte.
»Auf Wiedersehen, Emily Webb.«
Ich sah zu, wie er wegfuhr, zum Teil erleichtert, zu einem größeren Teil schmollend über meine Selbstbeherrschung. Ja, er war reich und arrogant, aber er sah so gut aus, und wie er mir bewiesen hatte, als er mir von seiner Familie erzählte, konnte er auch sehr sensibel sein. Unwillkürlich fragte ich mich, was Großmutter Hudson von all dem halten würde, besonders wenn Corbette und ich tatsächlich ein Paar würden.
Als ich die Treppe hinaufstieg, rief Merilyn mich.
»Sie hatten einen Anruf«, sagte sie. »Jemand namens Roy.«
»Roy?« Ich lief wieder nach unten. »Wann?«
»Vor einer Stunde.«
»Ruft er noch einmal an?«
»Das hat er nicht gesagt.«
»Hat er eine Telefonnummer hinterlassen?«, feuerte ich die nächste Frage auf sie ab.
»Nein.«
»Was hat er gesagt?«
»Er fragte nur nach Ihnen. Ich sagte ihm, Sie übten mit einem Jungen aus der Schule Ihre Rolle in einem Theaterstück, und er sagte, ich sollte Ihnen sagen, dass er angerufen hat. Das ist alles. Ich wurde nicht angestellt, um Nachrichten
für Sie entgegenzunehmen«, stänkerte sie und marschierte davon.
Enttäuscht stieg ich langsam die Treppe hinauf und warf mich aufs Bett. Mein Herz war völlig durcheinander. Bilder und Töne liefen auf dem Bildschirm meiner Erinnerung auf und ab, vor und zurück. Corbettes Augen verblassten zu Roys, und Roys Stimme wurde übertönt von Corbettes. Ihre Küsse, ihre Liebkosungen erregten jenen Teil von mir, der mit kleinen Explosionen der Leidenschaft erwacht war, ausgelöst von Corbette und Roy.
Mit geschlossenen Augen lag ich auf dem Rücken und stöhnte leise, fragte mich, ob ich hätte nachgeben sollen, fragte mich, wie es gewesen wäre, fragte mich, welche Gefahr und welche Ekstase auf der anderen Seite der Tür warteten, die ich fast aufgestoßen hätte.
Merilyn war schon gegangen, als ich herunterkam, um mir mein Abendessen zuzubereiten. Ich stand in der Küche, schaute in die Speisekammer und den Kühlschrank und überlegte, welche Gerichte zur Auswahl standen, als das Telefon klingelte. Ich sprang hin und schnappte den Hörer in der Hoffnung, dass es Roy war, aber es meldete sich Audrey.
»Hi«, sagte sie mit winzigem Stimmchen. »Entschuldige, dass ich dich störe, aber ich wollte anrufen, um mich zu erkundigen, wie es Mrs Hudson geht.«
»Oh, es geht ihr gut, Audrey«, sagte ich, außer Stande, meine Enttäuschung zu verbergen. Weil ich deswegen ein schlechtes Gewissen hatte, fügte ich schnell hinzu: »Aber es ist nett, dass du anrufst.«
Ihre Stimme wurde kräftiger, kühner.
»Ich habe mir auch um dich Sorgen gemacht«, sagte sie. »Das Stück macht wirklich gute Fortschritte, findest du nicht?«
»Ich denke schon. Es ist mein erstes, deshalb kann ich das nicht so gut beurteilen.«
»Oh, doch. Glaub mir. Ich habe schon bei ein paar mitgemacht, und keines war so gut, wie dies jetzt schon ist. Das hat viel mit dir zu tun, Rain. Du bist wirklich sehr gut.«
»Danke, Audrey. Wenn du deswegen genauso viel Angst hast wie ich, weißt du das zu schätzen.«
»Oh, ja«, sagte sie.
Sie schwieg einen Augenblick.
»Was machst du heute Abend?«, fragte ich sie. »Wenn du möchtest, könntest du herkommen und mit mir zu Abend essen.«
»Wirklich? Ich frage meine Mutter«, entgegnete sie rasch auf die Einladung. Ich hörte, wie der Hörer auf einen Tisch fiel, und lachte in mich hinein. Wenige Augenblicke später war sie wieder zurück. »Sie ist einverstanden. Wir bleiben doch nur bei dir zu Hause, ja?«
»Ja«, bestätigte ich.
»Ich komme sofort«, sagte sie und verabschiedete sich nicht einmal.
Ich staunte, wie leicht es war, Freunde zu bekommen und sogar eine Beziehung zu diesen reichen weißen Kids einzugehen. Einsamkeit kannte schließlich keine Grenzen. Sie kümmert sich weder um deine Hautfarbe noch um die Höhe deines Bankkontos. Sie wartet nur auf eine Gelegenheit, in dich hineinzukriechen und einen Schatten auf dein Herz zu werfen.
Weniger als fünfzehn Minuten später hörte ich die Türglocke
und begrüßte Audrey, gerade als ihre Mutter wegfuhr.
»Hi«, sagte sie. »Danke für die Einladung.«
»Komm herein. Ich führe dich herum, wenn du möchtest.«
»Oh, das brauchst du nicht. Ich bin schon früher hier gewesen«, sagte sie, als ich die Tür schloss. »Es ist sehr schön hier. Als ich das letzte Mal hier war, lernte ich Mrs Hudsons Enkelkinder kennen.«
»Wirklich? Erzähl mir von ihnen«, drängte
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