Die Hudson Saga 01 - Haus der Schatten
kleiner Bruder leidet an keiner Blutkrankheit. Vielleicht könnte man es so nennen. Es hat etwas zu tun mit Chromosomen und so einem Zeug. Er hat das Down-Syndrom. Du weißt, was das ist?«
»Ja«, sagte ich, »aber ich dachte, es wäre eine andere Art Blutkrankheit, vielleicht sogar Krebs.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Er starb, als er vier war«, wiederholte ich. »Ich bin mir sicher, dass er das sagte.«
»Wir können meine Mutter anrufen und sie fragen«, sagte Audrey, »wenn du mir nicht glaubst. Corbettes Mutter bekam seinen jüngeren Bruder erst, als sie schon Ende dreißig war. Jetzt ist sie Mitte vierzig, also erinnerst du dich wohl nicht richtig.«
»Ich weiß, was er mir gesagt hat«, sagte ich.
»Warum sollte er dir so etwas erzählen?«, fragte sie sich laut. Ihr Gesicht hellte sich auf, als ihr die Antwort klar wurde. »Vielleicht wollte er dein Mitleid erwecken, damit du nicht länger auf der Hut bist und ein weiteres Opfer des Kirschpflückers wirst.«
Ich starrte sie an.
»Rain?«
Ein unangenehmer Geruch stieg mir in die Nase.
»Oh, nein«, schrie ich und rannte zum Ofen, »die Kekse.«
Es war gerade noch gut gegangen, genau wie bei mir.
KAPITEL 16
Wem kann ich vertrauen?
J ake kam am Morgen vorbei, um den Rolls abzuholen, damit er Großmutter Hudson vom Krankenhaus abholen konnte. Ich sah ihn in seinem Auto vorfahren und ging hinaus, um mit ihm zu sprechen. Ich hatte daran gedacht mitzufahren, traute mich aber nicht, das vorzuschlagen, aus Angst, Großmutter Hudson aus der Fassung zu bringen.
»Morgen, Eure Ladyschaft«, scherzte Jake, tippte sich an die Mütze und verbeugte sich, als ich näher kam.
»Guten Morgen, Jake. Um wie viel Uhr bringen Sie Mrs Hudson nach Hause?«
»Sie sagten mir, ich sollte um zehn am Krankenhaus sein. Heute ist es eine Fahrt von nicht mehr als vierzig Minuten. Kein Verkehr.« Er schaute das Haus an. »Wie gefällt es Ihnen, ganz alleine in diesem großen Haus zu leben?«
»Ich habe eine Freundin zum Abendessen eingeladen«, sagte ich als Antwort. »Ich erzählte ihr von Ihren Gespenstern.«
Jake lachte.
»Hat es ihr Angst eingejagt?«
»Ein wenig schon, denke ich. Glauben Sie wirklich an Gespenster, Jake? Meine Mama schon.«
»Etwas bleibt in einem Haus wie diesem immer zurück, Rain«, sagte er, nahm seine Mütze ab und kratze sich den
Kopf. »Zu viel Geschichten ranken sich um es herum.Allerdings gibt es nichts, das Ihnen wehtun wird«, versprach er.
»Wie können Sie da so sicher sein, Jake?«, forderte ich ihn heraus.
Er zuckte die Achseln.
»Nichts hier hat mir je wehgetan«, erwiderte er. Er öffnete die Wagentür und schaute mich an. »Wollten Sie mitfahren?«
Ich war in Versuchung. Ich trat tatsächlich einen Schritt vor, blieb dann aber stehen.
»Nein, ich warte besser hier«, sagte ich. »Ich muss noch ein paar Hausaufgaben machen, und ich will später Zeit haben, um zu tun, was immer ich für Mrs Hudson tun kann.«
»Sie wissen, dass sie eine Krankenschwester mitbringt, die im Haus bleibt?«
»Ja, und ich habe auch gehört, dassVictoria das für zu teuer hält.«
Er lachte und schüttelte dann den Kopf.
»Es ist nicht so verkehrt, sein Geld zusammenzuhalten«, sagte er und stieg ein. »Von Victoria kann man eine ganze Menge lernen, wenn man gut zuhört.«
»Wenn man mit Victoria zusammen ist, kann man nichts anderes tun, als zuzuhören«, murmelte ich.Vermutlich hätte ich das nicht sagen sollen, auch wenn ich nicht einen Augenblick daran dachte, dass Jake jemandem erzählen würde, was ich gesagt hatte. Ich wollte nicht gemein und undankbar klingen.
Er senkte die Sonnenbrille und schaute mich mit einem halben Lächeln an, dann ließ er den Motor an, winkte und fuhr davon. Ich schaute hinterher, bis der Wagen verschwand. Dann drehte ich mich um und ging langsam ins Haus zurück.
Merilyn hatte gerade angefangen Staub zu putzen und zu saugen. Gestern Abend war sie sehr spät nach Hause gekommen und hatte sich nicht die Mühe gemacht, rechtzeitig aufzustehen, um mir das Frühstück zuzubereiten. Sie wusste, dass ich es mir selber machen würde und die Küche in einem besseren Zustand zurückließ, als sie es gewöhnlich tat, deshalb machte sie sich keine Sorgen darüber.
Ich hatte gar keine Hausaufgaben mehr zu machen, höchstens konnte ich noch ein bisschen üben für ein mögliches Geschichtsquiz. Audrey und ich hatten all unsere Hausaufgaben gestern Abend nach dem Essen gemacht. Danach hatten wir geredet und geredet, bis
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