Die Hudson Saga 01 - Haus der Schatten
uns am Nachmittag gerettet hatte. Aber ich spürte, dass er ein wenig gehemmter war bei jedem Blick, mit dem er mich streifte, bei jeder Berührung. Früher hätte ich mir nichts dabei gedacht, dass er meine Hand nahm, wenn wir durch die Straßen gingen. Er war mein großer Bruder.Warum nicht? Aber plötzlich umgab uns eine ganz neue Welt von Bedeutungen bei jeder Bewegung, die wir machten, jedem Wort, das wir sprachen, jedem Blick, den wir wechselten. Sogar etwas so Unschuldiges wie ein großer Bruder, der seine Schwester einlädt, mit ihm ins Kino zu gehen, bereitete mir ein wenig Unbehagen, aber ich wollte nicht, dass er das merkte, deshalb stimmte ich zu und wir gingen.
Es war ein Film mit viel Action und Spezialeffekten, dass man aus dem Sitz hochfuhr, es gab aber auch eine heiße Liebesgeschichte. Das Publikum war laut, und ein paar Jungen vor uns fingen an zu kämpfen. Sie wurden hinausgeworfen. Ich erkannte, dass es Jungen aus unserer Schule waren.
»Idioten«, murmelte Roy. »Sie benehmen sich genau so, wie die Leute es von ihnen erwarten.«
Roy war keiner, der für große Ziele kämpfte oder bei Organisationen mitmachte. Er blieb für sich, war ein Einzelgänger, hatte aber seine festen Überzeugungen über die Beziehungen zwischen den Rassen und über Gleichheit. Er hielt nie große Reden, aber aus dem, was er hier und da sagte, wusste ich, dass er sich schämte, wie die Leute in The Projects sich benahmen. Deshalb hasste er die Straßengangs so sehr und war nie mit Jungen zusammen, die zu einer gehörten.
»Solange wir uns so verhalten, wie sie es von uns erwarten, werden wir immer Bürger zweiter Klasse sein«, erklärte er. Mehr sagte er nicht darüber. Er ging Auseinandersetzungen aus dem Weg und geriet nie in Diskussionen über diese Fragen. Ken tobte und schrie manchmal über die Ungleichbehandlung, gab jedem von der Zeit des ersten Sklavenschiffes an die Schuld an seinen eigenen erbärmlichen Umständen, aber Roy stimmte nie in diese Klagen ein, und es machte Ken immer zu schaffen, dass sein Sohn nicht seine Sprüche nachplapperte.
»Hat dir der Film gefallen?«, fragte Roy, als wir das Kino verließen.
»Ja. Also, die Karambolagen und Explosionen nicht so sehr, aber mir gefiel, wie er am Ende zusammenbrach und eingestand, dass er immer nur sie geliebt hatte.«
Roy lachte.
Über uns in einem Wohnblock hatte jemand die Fenster geöffnet, und Musik drang auf die Straße. In der Ferne stieg ein Düsenjet in den Himmel, den Sternen entgegen, und trug Leute in Richtung Westen, vielleicht nach Kalifornien.
»Du stehst auf Liebesgeschichten, was?«
»Es ist schön, jemanden zu haben, der sich mehr um dich kümmert als du selbst«, sagte ich.
Roy schaute mich an, und wir gingen eine Weile nebeneinander her. Eine Gruppe von Teenagern ging an uns vorüber, rannte über die Straßen und zwang dabei die Autos abzubremsen. Manche Fahrer hupten, aber das machte die Kids nur noch aufsässiger. Sie verschwanden um die Ecke.
»Ihnen ist einfach nur langweilig«, sagte ich. »Deshalb geraten sie in Schwierigkeiten.«
»Vielleicht sind sie einfach schlecht.«
»Sie könnten gut sein«, hielt ich dagegen. Roy lachte.
»Du bist so lieb, Rain. Weißt du, warum ich nicht viel mit anderen Mädchen ausgehe? Ich versuche ein Mädchen wie dich zu finden, eine, die auch an andere Leute denkt. Die meisten Mädchen, die ich kenne, sind zuallererst in sich verliebt. Darüber reden sie die ganze Zeit, wenn sie mit mir zusammen sind, sich selbst, ihre Kleidung, ihr Haar, ihre Figur, und dann fischen sie ständig nach Komplimenten. Sehe ich nicht gut aus? Gefällt dir mein Haar so, oder soll ich mehr Make-up tragen? Sie kennen die Antworten. Sie wollen nur, dass ich mich wie ihr Fanclub anhöre.«
Ich lachte.
»Was ist denn so komisch?«
»So habe ich dich noch nie erlebt«, sagte ich.
»Ich kann nichts dafür. Manchmal kommt es über mich. Du gibst nie an oder machst Beni schlecht. Ich beobachte euch und höre euch beiden zu, Rain. Und du bist das hübscheste Mädchen in der ganzen verdammten Schule«, erklärte er.
»Das bin ich nicht, Roy Arnold.«
»Doch, das bist du. Und das wissen sie auch. Was glaubst du, warum andere Mädchen so gemein zu dir sind? Sie sind einfach eifersüchtig.«
»Das sagst du nur, weil du mein Bruder bist«, meinte ich lachend.
»Ich sage das nicht über Beni, Rain. Sie ist nicht hässlich, aber sie ist nicht so schön wie du.«
Ich spürte, wie mir die Wärme in Hals und
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