Die Hudson Saga 01 - Haus der Schatten
Donner dröhnte in meinen Ohren, und dann trat Stille ein.
KAPITEL 4
Alles, was ich je gewusst habe
I ch warf Beni einen Blick zu: Sie schaute völlig verwirrt drein, der Mund stand ihr offen, als schreie sie gerade. Mama sah aus, als stünde sie in Flammen. Ihr Gesicht war so von Schmerz erfüllt. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich taub geworden. All die üblichen Geräusche um mich herum waren verstummt. Ich hörte keine Schritte, keine Rufe aus dem Flur, keine klirrenden Rohre oder jaulenden Sirenen unten von der Straße. Ich nahm nur das Rauschen meines Blutes wahr, als es mir plötzlich aus dem Gesicht den Hals hinunterströmte.
Ohne ein Wort drehte ich mich um, rannte aus dem Wohnzimmer und dann zur Wohnungstür hinaus.
»Rain!«, rief Mama, aber die Tür dämpfte ihre Stimme, ich stürmte die Treppe hinunter, mein ganzer Körper erbebte mit jedem Schritt.
Ich erinnerte mich nicht einmal daran, das Gebäude verlassen zu haben. Gerade noch stand ich da und starrte Mama und Beni an, und im nächsten Augenblick befand ich mich auf der Straße, ging so schnell, dass ich fast rannte. Ich hörte oder sah nichts oder niemanden, einschließlich der Autos. Hupen erklangen, Leute schrien mich an, als ich die Straße bei Rot überquerte. Die Bremsen eines Autos kreischten so schrill und so laut, dass mir die Ohren wehtaten.
Dennoch hastete ich immer weiter, als wüsste ich, wohin ich gehe. Tränen strömten mir über das Gesicht und tropften mir vom Kinn. In der Brust war es mir so eng, als würde sie explodieren, aber ich blieb nicht stehen, obwohl die Welt vor mir und um mich herum völlig verschwamm.
Latisha Arnold war nicht meine leibliche Mutter? Die Frau, die ich mein ganzes leben lang Mama genannt hatte, war nicht Teil von mir und ich war nicht Teil von ihr? Wer war meine wirkliche Mutter? War Ken immer noch mein leiblicher Vater? Noch wichtiger, wer war ich? Ken hatte mich ein weißes Mädchen genannt. Wie konnte das sein? Was meinte er damit?
Plötzlich, in einem Augenblick zerplatzte alles um mich herum, mein Name, meine Familie, meine ganze Geschichte, wie Seifenblasen. Die ganze Welt war auf den Kopf gestellt, unter mir weggezogen worden. Ich hatte das Gefühl, in der Luft zu baumeln.
Ich blieb stehen, um mich im Schaufenster eines Schuhgeschäftes zu betrachten. Das Spiegelbild, das ich sah, war wie das Bild einer Fremden. Mein Haar stand wild ab, meine Augen waren von Panik erfüllt. Ich musste lachen, ein irres Lachen. Ich legte die Hand auf den Mund, um es zu unterdrücken, dann fing ich wieder an zu weinen und ging weiter, immer schneller.Vage wurde mir bewusst, dass Leute mich anstarrten, auch Leute, die mich kannten. Heiße Tränen liefen mir im Zickzack die Wangen hinunter und brannten einen Pfad auf meine Haut. Nach weiteren zehn Minuten schlang ich fest die Arme um mich und blieb stehen. Endlich spürte ich den Schmerz in Beinen und Magen. Einen Augenblick lang stand ich da an der Straßenecke und schaute auf den Park direkt vor mir.
Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich viele Blocks weit gegangen war. Ich befand mich in einem viel schöneren Teil der Stadt, einer Gegend mit kleinen Häusern, Stadthäusern, in denen Mittelschichtfamilien wohnten. Ihre Kinder waren im Park und spielten zwischen Wippen und Rutschen. In der Nähe saßen Mütter und Kindermädchen. Man hörte ein ständiges Lachen und Schreien der kleinen Jungen und Mädchen, eine unterschwellige Strömung von Musik, als ob Glück ein Lied wäre, das nur hier gesungen würde.
Ich warf einen prüfenden Blick auf den Verkehr und überquerte die Straße. Dort stand ich am Zaun und schaute zu diesen zufriedenen Kindern hinein. Ein kleines Mädchen weinte, ihre Mutter hatte sich neben es gekniet, um es zu trösten. Sie wischte ihm eine Strähne hellbraunes Haar aus der Stirn. Was sie sagte, die Sanftheit ihrer Stimme, die Liebe, die aus ihrem Blick und ihrem Lächeln strömte, vertrieb den Kummer rasch. Sie umarmten einander, und das getröstete Kind kehrte zum Karussell zurück. Es lachte und bewegte sich, als ob nichts Trauriges oder Schreckliches passiert sei oder je geschehen würde.
Mama hatte sich auch so um mich gekümmert, dachte ich. Sie hatte mir die Tränen weggewischt, mein Herz mit Hoffnung erfüllt, mich in den Schlaf gesungen und mir zu süßen Träumen verholfen. Sie hatte mir nicht ein einziges Mal das Gefühl gegeben, nicht meine wirkliche Mutter zu sein.Wie hatte sie das gemacht? Warum hatte sie das
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