Die Hudson Saga 01 - Haus der Schatten
nicht anders, ich fühlte mich anders als vorher. Es war, als wäre ich wiedergeboren oder in eine andere Persönlichkeit geschlüpft.
Ich starrte mich ständig im Spiegel an, dachte über meine Züge nach, fragte mich, wie sehr ich meiner leiblichen Mutter und meinem leiblichen Vater glich. Ich fühlte mich so verändert, dass ich mir sicher war, andere sahen es auch.
Schon vor all diesen Enthüllungen hatte ich oft den Eindruck, dass andere Schüler mich misstrauisch anschauten. Von dem, was Beni mir oft schadenfroh erzählte, wusste ich, dass viele mich für zu selbstverliebt hielten.
»Selbst die weißen Mädchen beklagen sich darüber, dass du auf sie hinabschaust, Rain«, sagte sie lachend.
Ich hatte, glaube ich, ein gutes Gefühl für mich selbst. Ich gestand zu, dass ich eine selbstbewusste Haltung hatte. Meine Lehrer lobten mich, wenn ich sprach, und machten mir Komplimente für meine Schularbeiten. Ich fand es gut, ein bisschen stolz zu sein. Aber jetzt, nach dem, was ich über mich erfahren hatte, fühlte ich mich noch mehr allein. Ich war nicht weiß und ich war auch nicht schwarz. Ich war eine Mulattin, aber für mich klang das eher wie eine Krankheit und nicht wie eine Identität.
Zu wem gehörte ich, zu den weißen Mädchen oder den afroamerikanischen? Würde überhaupt eine Gruppe von
ihnen mich wollen? Vielleicht bildete ich mir das alles nur ein, aber im Laufe dieses Tages stellte ich fest, dass anscheinend jeder noch zurückhaltender war als zuvor. In der Klasse hatte ich das Gefühl, jeder würde mich noch eindringlicher anstarren. Wie sich herausstellte, hatte ich guten Grund, so paranoid zu sein.
Aus Gründen, die sie später bedauern sollte, hatte Beni mein Geheimnis Alicia und Nicole verraten. Ich glaube, sie suchte etwas Mitgefühl, aber genauso gut hätte sie gleich zum Teufel gehen können. Es war, als hätte sie ihnen ein Geschenk gemacht, ihnen die schwächste Stelle meiner Festung gezeigt, einen Weg hineinzugelangen und meinen Sturz zu genießen. Ich war ihnen einmal zu oft mutig entgegengetreten. Sie gehörten zu der Sorte, die einfach auf der Lauer lagen und auf genau so eine Gelegenheit warteten. Und Beni, meine Schwester, hatte sie ihnen geboten.
Bevor der Tag endete, trieben sie und einige ihrer Freundinnen mich zwischen zwei Unterrichtsstunden auf der Mädchentoilette in die Enge. Wenige Augenblicke nachdem ich eine Kabine betreten hatte, versammelten sie sich auf der Toilette. Zuerst merkte ich gar nicht, dass so viele Mädchen zusammengekommen waren, aber der Anblick all dieser Füße und das unterdrückte Gelächter und Gemurmel erregten meine Aufmerksamkeit.
»Wie kommt es denn heraus, Rain, weiß oder schwarz?«, rief Alicia. Alle lachten. Als ich die Tür der Kabine öffnete, stand ich einem halben Dutzend Mädchen gegenüber. Alle schauten mich mit verzerrtem Lächeln an.
»Bestimmt hältst du dich jetzt für was Besonderes, hm?«, schleuderte Nicole mir entgegen.
»Wie meinst du das?«, fragte ich.
»Jetzt wissen wir, warum du dich ständig so hochmütig benimmst. Du glaubst, du gehörst nicht zu uns einfachen schwarzen Leuten«, imitierte sie einen stereotypen schwarzen Sklaven aus einem alten Film.
»Das ist nicht so, und ich wünschte, du würdest aufhören so zu tun, als hätte es den Anschein«, sagte ich.
»Ach ja? Mädchen, habt ihr das gehört? Fräulein Etepetete möchte, dass ich aufhöre, Lügen über sie zu erzählen.«
Alle Mädchen grinsten, ihre Augen strahlten vor Aufregung und Vorfreude.
Mein Herz begann zu klopfen.
»Ich muss in den Unterricht«, sagte ich und versuchte mich zwischen Alicia und Nicole durchzuzwängen. Sie rührten sich nicht vom Fleck. Ich trat zurück.
»Ich muss in den Unterricht«, äffte Alicia mich nach. »Warum?«, wollte sie wütend wissen. »Damit du dein hübsches Gesicht zeigen und deinen Hintern auf dem Flur hin- und herschwenken kannst, um die Jungs verrückt zu machen?«
»Nein«, widersprach ich. »Ich mache die Jungs nicht verrückt. Das überlasse ich dir und deinen Freundinnen. Gehst du mir jetzt aus dem Weg?«, fragte ich und versuchte meinen tapferen Anschein aufrechtzuerhalten, während mein Magen Purzelbäume schlug.
»Nein, ich glaube nicht«, sagte Alicia. »Wie ist es mit dir, Nicole? Hast du vor, Fräulein Etepetete aus dem Weg zu gehen?«
»Nein, ich glaube nicht. Mir gefällt die Bluse, die du trägst, Fräulein Etepetete. Ich finde, mir würde sie besser stehen.«
»Das ist doch
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