Die Hudson Saga 01 - Haus der Schatten
schüttelte den Kopf.
»Nein, ich … ich meine, ich weiß nicht, was ich sagen soll, Roy. Nachdem ich nach Hause gekommen war und Mama mir die ganze Geschichte erzählt hatte, empfand ich nicht anders für sie oder Beni oder dich. Familie muss doch mehr sein als nur das gleiche Blut, das einem durch die Adern fließt. Es gibt viele Geschwister, die nie miteinander reden oder sich nie sehen. Mama sieht ihre Schwester und ihren Bruder nie, und Ken erwähnt seine Geschwister kaum.«
»Das weiß ich doch«, erwiderte Roy rasch. »Ich erwarte nicht, dass sich irgendetwas über Nacht ändert.«
»Ich weiß nicht, was sich ändern könnte, Roy«, sagte ich sanft und griff nach seiner Hand. »Mein ganzes Leben lang bist du mein großer Bruder gewesen. Und so habe ich dich
auch geliebt«, sagte ich. »Ich hoffe, du wirst immer mein großer Bruder sein.«
Er schaute mich wieder traurig an, der Schmerz kehrte in seine Augen zurück, aber er tat sein Bestes, ihn zu verbergen.
»Klar«, sagte er, nickte und zwang sich zu lächeln. »Das weiß ich. Ich werde immer für dich da sein, Rain. Nichts hat sich in der Richtung geändert.«
»Es gibt jetzt eine Menge, über das ich mir Klarheit verschaffen muss«, sagte ich. »Dazu werde ich deine Hilfe brauchen.« Sein Lächeln wurde breiter und wärmer.
»Genau. Im Laufe der Zeit, wenn sich alles eingespielt hat, wird die Welt wieder anders für dich aussehen«, sagte er hoffnungsvoll. Ich wusste, dass er sich selbst meinte, aber ich konnte an ihn nur als meinen großen Bruder Roy denken.
»Ist das nicht gemütlich«, sagte Beni und trat ein.
Das Blut wich Roy aus dem Gesicht. Er ließ meine Hand los, als stünde sie in Flammen, und stand auf.
»Du hältst deinen dreckigen Mund«, fuhr er sie an.
»Ausgerechnet du solltest es nicht wagen, mich dreckig zu nennen, Roy Arnold. Du hörst, dass sie nicht deine Schwester ist, und du sitzt hier drinnen und hältst Händchen, bevor der Tag vorüber ist.«
»Wir halten doch gar nicht Händchen.Wir … wir reden nur über die Dinge«, stotterte er.
»Klar«, sagte sie. »Ihr redet nur über die Dinge.« Sie grinste höhnisch. »Ich bin müde. Ich gehe ins Bett.« Sie begann, ihre Bluse auszuziehen.
Roy warf mir einen Blick zu und hastete dann aus dem Zimmer. In der Tür blieb er stehen und sah zu Beni zurück.
»Besser machst du keine dreckigen Bemerkungen oder …«
»Oder was?«, fuhr sie ihn an, die Hände in die Hüften gestemmt. »Ich bin jetzt alles, was du noch hast. Ich bin deine echte Schwester. Sie nicht«, sagte sie und zeigte mit dem Finger auf mich.
Roy klappte den Mund auf und zu, dann drehte er sich um und knallte die Tür hinter sich zu. Beni lächelte, zufrieden mit sich selbst. Ich beobachtete, wie sie im Zimmer umherging und sich fertig machte fürs Bett.
»Das war grausam, Beni. Du hast keinen Grund, so wütend auf uns zu sein.«
»Oh, bitte«, sagte sie. Dann blieb sie stehen und drehte sich zu mir um. »Genauso gut könnte ich das Adoptivkind sein. So wie ich behandelt worden bin.«
»Beni …«
»Lass uns schlafen«, sagte sie, »und so tun, als wären wir Schwestern.«
»Wir sind Schwestern. Wir werden immer Schwestern sein, Beni. Daran hat sich nichts geändert«, sagte ich.
Sie schaute mich an, als redete ich puren Unsinn, und schenkte mir dann eines ihrer provozierenden, herablassenden Lächeln.
»Aber sicher, Rain-Schätzchen, schließlich sind wir so dick befreundet, wie Wasser dicker ist als Blut.« Sie lachte und ging ins Badezimmer.
Ich zog mein Nachthemd an und kroch ins Bett. Beni hatte mir nichts mehr zu sagen. Sie ging auch ins Bett und knipste die Lampe auf dem Tisch aus. Es war dunkel und ungewöhnlich still im Haus. Ich lag dort mit geöffneten Augen und dachte an Roy auf der anderen Seite der Wand,
der bestimmt auch in die Dunkelheit starrte und vielleicht lauschte, ob er meine Stimme hörte.
Das ängstigte mich, aber auf eine verwirrende Weise, denn ich fühlte mich auch geschmeichelt, vielleicht wie Eva, die nach der verbotenen Frucht griff, angsterfüllt und erregt zugleich.
Ich hatte fast Angst einzuschlafen.
Ich hatte fast Angst vor meinen Träumen.
KAPITEL 5
Bloßgestellt
K en kam sehr spät in jener Nacht nach Hause. Ein Alptraum nach dem anderen quälte mich, und ich wälzte mich in meinem Bett herum, als wäre ich ein kleines Boot in einem schweren Sturm. Ich hörte nicht, wie er hereinkam, aber ich hörte laute Stimmen, Mamas Schreie und wie ihre Stimme zu
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