Die Hudson Saga 01 - Haus der Schatten
stellte mir vor, sie läge dort wie üblich und hielte mir eine Predigt, dass ich mir wohl zu gut sei.
»Es ist nicht deine Schuld; es ist meine. Du hast doch nur versucht, mir zu helfen. Hör auf, meine Sünden zu übernehmen. Am Ende haben alle mehr Mitleid mit dir als mit mir«, stöhnte sie.
Ich lachte, als ich mir vorstellte, wie sie das sagte. Ich lehnte mich zurück und betrachtete alles, was ihr gehörte. Ich musste an all die Geheimnisse und Träume denken, die wir in diesem Zimmer miteinander geteilt hatten. In diesen Wänden waren die Fantasien, die wir erschaffen hatten, als wir jünger waren, fest verschlossen.Als wir älter wurden, lebten wir uns auseinander. Wir waren wie zwei Boote, die nebeneinander hertrieben. Plötzlich kamen Wellen, die uns
immer weiter voneinander trennten, ganz gleich wie sehr ich die Hand nach ihr ausstreckte, wie sehr ich mich reckte und mich bemühte, ich konnte ihre Hand nicht mehr greifen.
Sie wurde davongetragen.
Und jetzt war sie weg.
Uns allen graute vor der Beerdigung. Ich erinnere mich daran, dass ich auf dem Weg zur Kirche dachte, Beerdigungen sind so schrecklich, weil sie bestätigten, dass es nicht nur ein böser Traum war. Ich wachte morgens auf, schaute zu Benis Bett hinüber und erwartete, sie dort zu sehen, zur Wand gedreht, die Decke um sich geschlungen, die Haarsträhnen unter der Bettdecke hervorlugend. Selbst wenn ich sie nicht dort sah, lag ich still und lauschte auf das Geräusch laufenden Wassers im Badezimmer.Vielleicht war es einer der seltenen Tage, an denen sie vor mir aufstand.Vielleicht war sie nicht tot.Vielleicht war alles wirklich nur ein Alptraum.
Ich lauschte.
Freunde und Nachbarn trafen ein, um zu kondolieren. Viele brachten selbst gebackene Kuchen und Körbe voller Obst mit. Kens Bekannte schleppten Bier und Gin an. Es dauerte nicht lange, da hatten sie sich im Wohnzimmer versammelt und übertönten einander mit laut erhobenen Stimmen bei prophetischen Ankündigungen, dass für die Reichen und Mächtigen der Tag der Abrechnung nahe. Gerechtigkeit für die Armen und Unterdrückten lag direkt um die nächste Ecke. Bald verschwand der Grund für ihr Hiersein aus ihrem Bewusstsein, und ihre Unterhaltung wandte sich wieder ihren üblichen Themen zu.Alle tranken zu viel, machten zu viel Lärm und vertrieben schließlich sogar die Leute, die Mama wirklich hätten trösten können.
Roy konnte es nicht ertragen, dort zu sein. Er ging, sobald die Leute eintrafen, besonders Kens Freunde. Ich hatte Angst, dass er auf der Suche nach Jerad die Straßen durchstreifte. Wir erwarteten, dass die Polizei ihn und Carlton suchte, aber keiner von ihnen war bislang gefunden worden. Ich konnte nur einige der anderen Gangmitglieder und die Mädchen dort beschreiben. Ich kannte keine anderen Namen außer dem Spitznamen für den dicken Jungen, den Jerad Chumpy nannte.
Spät am Nachmittag des zweiten Trauertages kam Alicia Hanes und näherte sich mir rasch. Ken und seine Freunde hatten die Küche besetzt, und Mamas Freundinnen saßen mit ihr und mir im Wohnzimmer. Meistens saß ich da, als litte ich unter Gedächtnisverlust, starrte in die Gesichter und hörte die Unterhaltung, ohne irgendetwas zu verstehen oder jemanden zu erkennen. Die Leute schüttelten bei meinem Anblick die Köpfe und bemitleideten mich. Aber diejenigen, die die Geschichte besser kannten, lieferten unweigerlich Kommentare ab wie: »Wie konntest du nachts nur dahin gehen? Was hast du dir dabei gedacht?«
Hinter ihrer Maske des Mitleids waren ihre Gesichter voller Verdammung. Vorwürfe drangen wie Nebel in unser Heim und legten sich um mich. Ich sah es in ihren Augen, in der Art, wie sie mir verstohlene Blicke zuwarfen und dann tuschelten, wie sie die Köpfe schüttelten und die Lippen aufeinander pressten. Im Zimmer war es stickig.
»Ich muss mit dir reden«, flüsterte Alicia mit einem angstvollen Blick auf Mama. »Allein.«
»Warum?«
»Ich muss dir etwas geben und dir etwas sagen«, fuhr sie fort.
Normalerweise saß ich fast den ganzen Tag auf dem Sofa, stand gerade mal auf, um ins Badezimmer zu gehen. Mamas Freundinnen kümmerten sich darum, dass die Trauergäste bedient wurden und etwas zu essen bekamen, und sie spülten auch ab. Es war, als wollten sie nicht, dass ich ihr Essen, ihr Besteck oder ihre Teller berührte.
Ich stand auf und ging mit Alicia in mein Zimmer. Sie schloss die Tür, und ich drehte mich zu ihr um.
»Was willst du?«, fragte ich. Keine von Benis so
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