Die Hudson Saga 01 - Haus der Schatten
Bauch, das Gesicht in die Kissen gepresst. Ich drehte mich langsam um und schaute zu ihm hoch.
»Sie hatte Angst, jemand würde es herausfinden, Roy«, sagte ich. »Sie wollte einfach aus der Situation herauskommen und neu anfangen. Ich hoffte, ich könnte ihr dabei helfen. Das musst du mir glauben.«
»Ich glaube dir«, sagte er. »Ich bin nur enttäuscht, dass du nicht zu mir gekommen bist.«
Ich nickte.
»Du hast Recht. Ich hätte Hilfe holen sollen.«
»Wie konntest du nur alleine in diese Gegend der Stadt gehen? Glaubst du, du hast einen besonderen Schutzengel, jetzt wo du herausgefunden hast, dass deine wirkliche Mama irgendeine reiche weiße Lady ist?«, fragte er.
Seine Frage versetzte mir einen schmerzhaften Stich mitten ins Herz. Ich sah den Zorn in seinem Gesicht, die Wut in seinen Augen. So konnte er Kummer und Schmerz am besten ertragen.
»Nein«, erwiderte ich leise. »Ich habe nie gedacht, ich wäre etwas Besonderes, und jetzt glaube ich das ganz bestimmt nicht.«
»Diesen Jerad erwische ich«, schwor er. »Den reiße ich mit bloßen Händen in Stücke.«
»Überlass das doch der Polizei, Roy. Wenn dir wegen all dem auch noch etwas passiert, ist das auch meine Schuld«, sagte ich.
»Für Selbstmitleid ist es zu spät«, erwiderte er barsch.
Er starrte auf Benis leeres Bett, auf ihre Poster und ihren Walkman mit den CDs daneben. Dann schaute er mich an und schüttelte den Kopf, bevor er ging und die Tür hinter sich schloss.
Hätte ich noch Tränen gehabt, ich hätte immer weiter geweint. Aber meine Quelle des Kummers war erschöpft. Ich konnte nur noch voller Schmerz daliegen und auf das Bild von Beni und mir starren, als wir noch jünger waren und glaubten, die Welt sei wie Disneyland.
Beni und ich sprachen nie viel über den Tod, obwohl es so viel Gewalttätigkeit um uns herum gab. Ich erinnere mich, wie wir einmal zufällig eine Schießerei mitbekamen und eine Leiche, die mit einem Tuch bedeckt war, auf dem
Bürgersteig liegen sahen. Die Polizei war dort und einige neugierige Passanten.
Auf dem Asphalt konnte man sogar etwas Blut sehen.
Jemand hatte Aufnahmen gemacht, aber alle standen herum und unterhielten sich ruhig, als wäre das nichts Besonderes. Der Tote wurde Teil einer Statistik, zu einem knappen Bericht in den lokalen Rundfunk- und Fernsehnachrichten.
Ich konnte die Augen schließen und hoffnungsvoll darauf warten, dass Beni durch jene Türe käme, aber ich wusste, das würde sie nicht, sie würde nie mehr hereinkommen. Ich fragte mich, ob ich wirklich eine gute Schwester gewesen war.
Hätte ich mehr tun sollen, mich stärker bemühen sollen, sie von diesen üblen Mädchen loszueisen? Hätte ich mir weniger Sorgen um mich selbst, um meine Noten und mein Aussehen machen und ihr helfen sollen, Fortschritte zu machen? Wenn ich fleißiger daran gearbeitet hätte, hätte ich dann verhindern können, dass sie jemals in diese Schwierigkeiten geraten wäre, die zu ihrem Tod führten? War ich zu egoistisch, zu prüde, zu zimperlich und zu hochnäsig gewesen, um mir die Hände schmutzig zu machen?
Die arme Beni hatte so wenig von sich gehalten. Sie bemühte sich so sehr darum, dass Leute sie mochten. Sie dachte, wenn sie mit den ganz harten Typen zusammen war, würde ihr Respekt entgegengebracht. Ich erinnerte mich daran, wie aufgeregt sie gewesen war, als Carlton ihr seine Aufmerksamkeit geschenkt hatte – der Klang ihrer Stimme, die Musik darin, als sie ihre aufkeimende neue Romanze beschrieb.
Ich wusste, dass sie sich in Bezug auf Mama und Roy immer
an mir maß. Sie verlangte von mir, dass ich mehr so sein sollte wie sie, aber insgeheim, tief in ihrem Inneren, wünschte sie sich, mehr so zu sein wie ich. Ich wusste, dass sie mich ablehnte und gleichzeitig liebte. Deshalb saß sie bei diesen schrecklichen Mädchen, deshalb tat sie in der Schule so, als kenne sie mich nicht, und dennoch war sie da, als ich sie am meisten brauchte.
Die Wahrheit, die ich nicht einmal aussprechen konnte, war, dass Beni sich geopfert hatte, um mich zu beschützen. Vielleicht hätte ich nicht die Gelegenheit gehabt zu entkommen, wenn sie Jerad nicht geschlagen und sich gegen ihn gewehrt hätte. Hätte ich weglaufen sollen? War ich ein Feigling? Wenn nicht, wären ihre Anstrengungen dann vergeudet gewesen und wir wären beide zu Schaden gekommen? Ich konnte mir ihr wütendes Gesicht richtig vorstellen, wenn ich dort geblieben wäre. Es brachte mich fast zum Lachen. Ich schaute auf ihr Bett und
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