Die Hudson Saga 01 - Haus der Schatten
es gibt genug Beweismaterial, um ihn zu verurteilen? Du weißt doch, wie Leute hier davonkommen, Rain. Sie kommen davon, weil wir uns meistens nur gegenseitig umbringen«, konstatierte er bitter.
»Du hörst dich an wie Ken«, sagte ich.
»Tja, also, manchmal hat er nicht Unrecht.«
»Was willst du deswegen unternehmen, Roy?«
Er überlegte einen Augenblick.
»Komm mit«, forderte er mich auf.
»Wohin?«
»Du musst sowieso ein bisschen raus. Komm schon«, drängte er und ging vor. Ich erhob mich und folgte ihm.
Ken und seine Freunde waren gegangen, aber Mama unterhielt sich im Wohnzimmer noch leise mit einigen anderen Frauen aus der Siedlung. Roy warf einen Blick zum Wohnzimmer und ging dann zur Wohnungstür.
»Niemand wird uns vermissen. Mach dir keine Sorgen«, sagte er.
Ich folgte ihm nach draußen. Es war ein seltsames Gefühl, die Wohnung zu verlassen. Ich fühlte mich zur Schau gestellt, verletzlich. Umgeben von Kummer und Beileidsbekundungen befand ich mich in einem Kokon, eingehüllt in mein eigenes Elend, aber abgeschottet von den forschenden Augen der Neugierigen. Der Klang des Lebens erschien mir
unangenehm und unpassend.Warum war nicht jeder so traurig und hoffnungslos wie wir? Warum waren alle so unberührt von Benis entsetzlichem Tod? Ging es ihnen nicht nahe genug? Es war qualvoll, draußen in Verkehr und Lärm zu sein, Gelächter zu hören und Menschen zu sehen, die lächelten und sich amüsierten.
Roy ging schnell, die Schultern hochgezogen, als ob diese Geräusche und Anblicke ihm auch wehtäten. Wir gingen um das Haus herum und überquerten dann die Straße zu einem leer stehenden Grundstück. Dort türmten sich Abfall, verrostetes Metall, Müllbeutel, alte Reifen, sogar alte Möbel. Er stand einen Augenblick da und überblickte den Platz wie ein General, der ein Schlachtfeld nach der Schlacht inspiziert. Er entdeckte, was er suchte, und marschierte darauf zu.
Ich beobachtete, wie er ein paar Teile von zerbrochenen Möbeln in einen Reifen stellte. Er fügte etwas Papier hinzu und fand einen verbeulten Benzinkanister. Offensichtlich befanden sich darin noch ein paar Tropfen Benzin. Er ließ sie auf den kleinen Haufen tropfen und warf den Umschlag mit den Negativen darauf.
»Willst du sie verbrennen?«
»Ja, das will ich«, sagte er.
»Ist das denn kein Beweismaterial, Roy?«, fragte ich ihn.
Er schüttelte den Kopf.
»Willst du, das sich jemand das anschaut, selbst die Polizei?«
»Nein«, erwiderte ich, als ich darüber nachdachte, wie irgendwelche Fremden lüstern auf die arme nackte Beni schielten. »Wohl kaum.«
»Ich auch nicht.«
Er kniete vor dem Reifen nieder und entzündete den kleinen Stapel.Wir schauten zu, wie die Flammen den Umschlag entzündeten. Die Negative kräuselten sich, während kleine dunkle Rauchwölkchen aufstiegen. Wie sehr wünschte ich mir, der ganze Vorfall, die bestialischen Dinge, die sie Beni angetan hatten, könnten ebenso verbrannt werden, so dass nichts als Rauch übrig blieb. Roy blieb knien und beobachtete, wie es brannte. Ich schaute mich um, plötzlich ängstlich, weil ich das Gefühl hatte, jemand könnte uns beobachten. Jedes leer stehende Gebäude, jede zerbrochene Fensterscheibe, jedes eingefallene Gebäude wirkte unheilvoll. Ein drohender schwerer Regen verdunkelte den Himmel. Der Wind wurde stärker, hob einigen Abfall hoch, trieb Papier, Kartons und Müll um uns herum. Ich schlang die Arme um mich.
»Lass uns zurückgehen, Roy«, drängte ich.
Er tat so, als hätte er mich nicht gehört. Dann stand er auf, trampelte auf dem Feuerchen herum und stampfte dabei die Überreste in den Boden. Er trat gegen den Reifen und wandte sich ab. Ich sah die Tränen, die in seinen Augen glänzten. Das raubte mir einen Augenblick die Luft. Dann nickte er, und wir gingen zurück. Ein Streifenwagen mit heulenden Sirenen und rotierendem Blaulicht raste die Straße zu unserer Rechten hinunter. Wir sahen zu, wie er vorüberfuhr.
»Sie werden sie schnappen, nicht wahr, Roy?«
»Und wenn? Mit so etwas sind sie auch früher schon davongekommen«, sagte Roy. »Es gibt nur eine Möglichkeit, sie aufzuhalten …«
Es war still, als wir in unsere Wohnung zurückkehrten. Mamas Freunde waren alle gegangen. Sie hatten alles aufgeräumt,
sich sogar um das Chaos gekümmert, das Ken und seine Saufkumpane hinterlassen hatten. Mama hatte sich hingelegt.
»Möchtest du etwas essen, Roy?«, fragte ich.
»Vielleicht«, sagte er. »Ich spüle dann.«
Ich schaute zu
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