Die Hudson Saga 01 - Haus der Schatten
lernen«, sagte ich und streckte ihr die Hand entgegen.
Sie schaute mich an und lachte.
»Du bringst ihr bereits Manieren bei, Mutter? Ich hätte gedacht, du lässt ihr einen oder zwei Tage Zeit.«
Die Schultern meiner Großmutter erstarrten, ihr Blick wurde zornig vor Empörung.
»Offensichtlich habe ich bei dir schlechte Arbeit geleistet, Victoria. Das Mädchen hat dich angemessen begrüßt.«
»Ja, ja, das hat sie.« Sie gab mir die Hand, murmelte hallo und ging dann um den Tisch herum.
»Hattest du vor, mit uns zu Abend zu essen? Als ich gestern mit dir sprach, sagtest du, du wärst vermutlich nicht rechtzeitig hier und …«
»Ich habe im Büro etwas gegessen«, sagte sie. Sei schaute Merilyn an. »Ich hätte aber gerne einen Kaffee, Merilyn.« Sie setzte sich mir gegenüber.
»Gewiss, Miss Victoria«, sagte Merilyn und ging hinaus, um eine Tasse und eine Untertasse zu holen. In der Tür blieb sie stehen. »Möchten Sie auch etwas Trifle haben?«
»Trifle? Meine Güte, wir wollen aber einen guten Eindruck auf unseren neuen kleinen Gast machen, was? Nein, danke, Merilyn. Das war mir schon immer zu üppig.
Also«, fuhr sie fort und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder mir zu. »Hast du überhaupt eine Ahnung, wie viel Glück du hast?«
Ich warf meiner Großmutter einen Blick zu. Etwas in ihrem Blick verriet mir, dass Victoria absolut keine Ahnung von der Wahrheit hatte.
»Ja«, sagte ich. »Da ich nicht in all das hineingeboren worden bin, nehme ich es schwerlich als gegeben hin.«
Meine Großmutter lachte. Es war das erste volle und aufrichtige Lachen, das ich in diesem Haus hörte.
»Ich glaube, der Ausdruck lautet touché, Victoria«, teilte sie
ihr mit. »Zufälligerweise ist dies eine sehr intelligente junge Dame.«
»Tatsächlich?«, meinte Victoria trocken. »Wie ist Megan denn bloß an solch eine Person geraten?«
»Von Zeit zu Zeit widmet Megan sich auch Wohltätigkeitsprojekten. Du solltest auch einmal an so etwas denken, Victoria. Tag und Nacht wie ein Wall-Street-Geschäftsmann zu arbeiten ist nicht alles auf der Welt, weißt du. Das lässt dir gar keine Zeit für irgendwelche gesellschaftlichen Aktivitäten, sei es Wohltätigkeit oder sonst etwas.«
»Diese Diskussion haben wir doch schon ad infinitum geführt, Mutter, müssen wir das jetzt vor einer Fremden wiederholen?«, sagte Victoria mit müder Stimme.
Merilyn brachte Victoria eine Tasse und goss ihr Kaffee ein. »Sonst noch irgendetwas, Mrs Hudson?«
»Nein«, erwiderte meine Großmutter scharf. Sie wandte den Blick nicht von Victoria, die ihren Kaffee trank und zu mir herüberschaute.
Wusste sie etwa alles? Sie wirkte clever genug, um sich alles auszurechnen. Das machte mich sehr nervös.
»Meine Tochter Victoria«, sagte meine Großmutter, »hat das Unternehmen meines verstorbenen Mannes Everett übernommen. Normalerweise besucht sie mich nur, um mich Dokumente unterschreiben zu lassen oder mir einen Vortrag darüber zu halten, wie teuer alles ist, besonders dieses Haus.«
»Ich weiß nicht, wieso du darauf bestehst, es zu behalten, Mutter«, sagte Victoria mit einer ausladenden Geste. »Du lebst doch allein. Du müsstest doch nicht all diese Räume heizen und klimatisieren und sauber halten und die Gartenanlage …«
»Ich glaube, ich kann am besten entscheiden, was um mich herum ist oder nicht«, gab meine Großmutter zurück. »Außerdem, was wird aus meinem Geld, wenn ich einfach Zinsen um Zinsen, Dividenden um Dividenden anhäufe, Victoria? Es wird nur dir und Megan und ihren Kindern hinterlassen, um es zu verschwenden.«
»Ich verschwende kein Geld, Mutter. Ich gebe dir nur einen klugen Rat. Ich bin nicht hinter irgendeinem Erbe her oder versuche es größer zu machen.«
Meine Großmutter richtete den Blick wieder auf mich, und ich sah die Skepsis in ihren Augen.
Unwillkürlich war ich fasziniert davon, wie die wirklich Reichen unter sich redeten. Trotz ihres Reichtums schien Geld für sie eine ständige Sorge zu sein, ein Thema, das seinen Weg in jede Diskussion fand. Ich versuchte mir eine ähnliche Unterhaltung über Erbschaft zwischen Mama und mir oder Beni oder Roy vorzustellen. Fast hätte ich laut aufgelacht.
»Also«, sagte Victoria und setzte ihre Kaffeetasse ab, »was erhoffen du und Megan denn bei diesem intelligenten, aber armen Mädchen erreichen zu können? Ist sie wieder zurück zu ihren Tagen des Protestes und der Rebellion?«
»Warum rufst du sie nie an und stellst ihr diese Fragen
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