Die Hudson Saga 02 - In dunkler Nacht
eine Art Kompromiss. Großmutter Hudson hatte jedoch darauf bestanden, dass dem nicht so sei.
»Glaubst du, ich würde mir von meiner Tochter eine so wichtige Entscheidung vorschreiben lassen?«, blaffte sie mich an, als ich das ansprach.
»Nein«, bestätigte ich.
»Damit hast du Recht. Solange in dieser alten Lunge noch ein Atemzug ist, werde ich das nicht zulassen, also hör auf, dir Leid zu tun«, warnte sie mich. »Menschen, die sich bemitleiden lassen, haben bereits das Handtuch geworfen. Auf meinem Grabstein soll geschrieben stehen, dass dort eine Frau ruht, die sich niemals bemitleiden ließ.Verstanden?«
»Ja«, sagte ich und lachte sie an. Sie brummelte wütend vor sich hin, lächelte aber hinter ihrer Maske des Zorns, ein Lächeln, das nur ich sehen konnte.
Jetzt, da das Schuljahr vorüber war, dauerte es nur noch wenige Tage, bis ich nach England aufbrach.
Mama war gestorben. Ken saß im Gefängnis, wo er hingehörte, Roy war in der Armee, und die arme Beni war tot. Ich hatte wirklich nur mich selbst, denn meine leibliche Mutter hatte es geschafft, das Geheimnis meiner Identität zu bewahren, und jetzt sah es so aus, als könnte sie ewig so weitermachen, nur um den Frieden in ihrer kostbaren, vollkommenen Welt aufrechtzuerhalten. Ihre Entschuldigung war immer die gleiche – dass sie ihren Ehemann Grant schützen musste, der Politiker werden wollte.
Ihre eigenen Kinder Brody und Alison hatten keine Ahnung, dass sie mein Halbbruder und meine Halbschwester waren. Mit Alison wollte ich sowieso nicht verwandt sein, aber Brody war zu aufmerksam geworden und meine Mutter hatte sich Sorgen gemacht, dass er zu tiefe Gefühle für mich entwickelte.
Brody war ein Footballstar und ein Überflieger, der sogar eine Klasse übersprungen hatte. Meine Großmutter machte sich ebenfalls Sorgen darüber, wie sehr er sich zu mir hingezogen fühlte.
Ich vermutete, dass es noch einen weiteren Grund gab, warum sie so begierig war, mich nach London zu schaffen. Sie hatte Pläne geschmiedet, mich auf der Hinreise zu begleiten, aber ihr Arzt, der es mit meiner Hilfe geschafft hatte, ihr einen Herzschrittmacher implantieren zu lassen, hatte ihr dringend geraten, Abstand von dieser Reise zu nehmen. Der Schrittmacher funktionierte noch nicht hundertprozentig. Natürlich hatte Großmutter Hudson einen Wutanfall bekommen und geschworen, sich ihrem
Arzt zu widersetzen. Ich musste ihr entgegentreten und ihr sagen, dass ich nicht fahren würde, wenn sie mitkam.
»Ich übernehme nicht die Verantwortung dafür, was dir passieren könnte«, erklärte ich energisch. So viel sie auch polterte und mit den Händen wedelte, ich wich nicht zurück.
»Das ist doch Unsinn.« Wild gestikulierend ging sie im Zimmer auf und ab. »Was glaubst du eigentlich, mit wem du sprichst?«
»Ich hatte gehofft, mit einer reifen Erwachsenen«, sagte ich. Ihre Lippen bewegten sich einen Augenblick lang ohne einen Laut, obwohl sie nur zu gerne auf mich losgegangen wäre.
»Du weißt doch, dass du eine äußerst aufreizende junge Dame bist, nicht wahr?«, brachte sie schließlich heraus.
»Ich frage mich, von wem ich das geerbt habe«, erwiderte ich.
»Nicht von deiner Mutter, so viel ist sicher«, sagte sie. »Wenn die in eine Krise gerät, zieht sie los und kauft sich ein neues Kleid.«
Sie ließ sich in den Sessel in ihrem Schlafzimmer fallen und lehnte sich zurück, die Arme auf die Sessellehnen gestützt.
»Ich warne dich. Meine Schwester Leonora, die sich einverstanden erklärt hat, dich bei ihr wohnen zu lassen, ist ganz anders als ich.«
»Welch eine Erleichterung.«
»Sei nicht unverschämt«, fauchte sie. Nachdem sie
tief Luft geholt und zum Fenster hinausgeschaut hatte, wandte sie sich wieder mir zu. »Sie ist sehr pedantisch. Sie und ihr Ehemann Richard sind typisch englisch. Ihr Leben ist geprägt von einem Verhaltenskodex, der die Regeln, nach denen ich lebe, wie das reinste Chaos wirken lassen. Außerdem wirst du dort wie einer ihrer Domestiken leben und Hausarbeiten verrichten müssen. Vielleicht bist du dem allein nicht gewachsen. Jeden Tag werden sie dich daran erinnern, welches Glück du hast, sie bedienen zu dürfen.«
Ich erwiderte: »Glück. Ich frage mich jeden Tag, was ich getan habe, um dieses Glück zu verdienen.«
»Du bist ein freches Kind. Nun gut«, meinte sie seufzend, »sie können nicht erwarten, dass ich dir in der kurzen Zeit bei mir all deine Flausen ausgetrieben habe. Selbst einem Menschen wie mir sind Grenzen
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