Die Hudson Saga 02 - In dunkler Nacht
Krähen hockten auf einem Felsen. Sie starrten mich mit vorsichtigem Interesse an. Ich fragte mich, ob eine weitere Spezies außer dem Menschen der Farbe eine Bedeutung beimaß.
Schauten andere Vögel auf die Krähen herab, weil sie schwarz waren? Sie waren sehr schön, eher schimmernd ebenholzfarben als schwarz, und ihre Augen wirkten in der Sonne wie Juwelen. Roy hatte ebenso schöne dunkle Augen, erinnerte ich mich.
Ich fragte mich, wie es ihm in der Armee ging. Seine Einheit war bereits nach Deutschland verlegt worden, und wir hatten darüber gesprochen, dass er mich in England besuchen sollte. Bestimmt fühlte Roy sich auch wie eine Waise, denn er hatte seinem Vater nie nahe gestanden. Jetzt, wo sein Vater im Gefängnis saß und seine Mutter tot war, blieb ihm nur noch die Armee. Ich hatte zumindest Großmutter Hudson.
Das Hupen eines Autos ließ die Krähen gen Himmel auffliegen. Sie strichen an mir vorbei, ihr simultaner Flügelschlag ließ sie fast wie ein einziger Vogel wirken. Mit ihren leicht geöffneten Schnäbeln sahen sie aus, als lachten sie, während sie über den See auf die Sicherheit der Dunkelheit im Wald zusegelten.
»Auf Wiedersehen«, flüsterte ich und drehte mich um, um Jake, dem Chauffeur meiner Großmutter, zuzuwinken. Er hatte mein Flugticket abgeholt und hielt es hoch wie ein Lotterielos, das gezogen worden war. Ich eilte den Weg hinauf.
»Es ist alles bereit«, sagte er und reichte mir die Reiseunterlagen. »Übermorgen reisen Sie ab. England. Wow! Ich wette, Sie sind aufgeregt.«
»Eher nervös als aufgeregt, Jake.«
Er lächelte und nickte. Jake war hochgewachsen, schlank und wurde langsam kahl, hatte aber buschige
Augenbrauen. Ich mochte seine Unbekümmertheit sehr. Kurz vor Ende des Schuljahres hatte er mich mitgenommen und mir sein Pferd gezeigt, ein neugeborenes Fohlen. Er hatte es nach mir benannt.
Großmutter Hudson hatte Glück, jemanden wie Jake zu haben, dachte ich. Er war schon lange bei ihr, und sie kannten sich schon lange, bevor er ihr Angestellter wurde. Sein Vater war einmal der Eigentümer dieses Besitzes gewesen. In mancher Hinsicht gehörte er für mich zur Familie.
»Sie werden das schon prima machen, Rain«, prophezeite er. »Schicken Sie mir nur von Zeit zu Zeit englische Toffees. Da wir gerade von England sprechen, wie geht es denn unserer Königin?«, fragte er und warf einen Blick auf das Haus.
»Mrs Hudson droht immer noch mitzukommen, falls es das ist, was Sie meinen.«
»Seien Sie nicht überrascht, wenn sie im Flugzeug sitzt«, warnte er mich.
»Wenn sie das tut, springe ich wieder hinaus. Das habe ich ihr gesagt.«
Er lachte und steuerte auf sein Auto zu.
»Ich stehe in aller Herrgottsfrühe putzmunter vor der Türe.«
»Erwarten Sie nicht, dass ich auch putzmunter sein werde«, rief ich. Er winkte, stieg ein und fuhr davon.
Es wurde schnell dunkel. Das große Haus ragte drohend hinter mir auf, in Großmutter Hudsons Zimmer brannte Licht. Ich war erst kurze Zeit hier, aber ich hatte zumindest angefangen zu verstehen,
was es bedeutete, wieder ein Zuhause zu haben. Jetzt sollte ich mich wieder auf ein ungewisses Abenteuer einlassen. Ich hatte Erfolg gehabt in der Schultheateraufführung, und Leute, die angeblich Ahnung davon hatten, meinten, ich hätte vielleicht das Zeug zur Schauspielerin.
Warum sollte ich nicht das Zeug dazu haben, so zu tun als ob, dachte ich. Den größten Teil meines Lebens musste ich das: Ich musste so tun, als hätten wir ein sicheres Familienleben, einen Vater, der sich um uns kümmerte, eine Zukunft für mich und meine Familie. Jetzt tat ich so, als sei ich eine Waise, obwohl ich wusste, dass ich eine leibliche Mutter hatte, die mich immer noch verleugnete. Illusionen waren Teil meiner selbst.
Wie einfach sollte es doch sein, eine Bühne zu verlassen und eine andere zu betreten.
Wenn ich so leben muss und sein muss, ist es dann nicht besser, ein Publikum zu haben, das applaudiert und mich immer wieder auf die Bühne ruft, um mir Beifall zu spenden?
Der Mond sah aus wie ein Scheinwerfer, der auf mich gerichtet war. Die Welt um mich herum war ein großes Theater.
Eine Welle des Flüsterns erhob sich von einem imaginären Publikum und erreichte mich in der Dunkelheit hinter dem Vorhang.
»Hab keine Angst«, sagte Mama.
»Nimm deine Position ein, Rain«, befahl der Regisseur. »Sind alle bereit?«
»Mama … ich kann nicht anders. Ich habe Angst«, rief ich in Richtung auf die dunklen Seitenkulissen.
»Zu spät,
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