Die Hüter der Nacht
Das gedämpfte Knacken, als Danielle ihm das Genick brach, war nicht lauter als das Brechen eines Astes. Sie zog ein Messer aus einer Scheide an seiner Wade und schaltete damit den zweiten Mann aus, der ein paar Meter vom ersten entfernt in Position war, genau wie sie vermutet hatte.
Mit den Gewehren der Killer kehrte sie zu Mundt zurück. Sie klärten ab, wer von ihnen welchen Heckenschützen in den Bäumen übernehmen würde und einigten sich, die gleiche Stelle zu erkunden, wenn sie geschossen hatten. Danielle hörte das scharfe Krachen von Mundts Gewehr nur Sekunden, nachdem sie mit einem kurzen Feuerstoß einen schwarz gekleideten Schießer aus dem Baum geholt hatte.
Sie fand Mundt über den zweiten Heckenschützen geneigt am Fuß eines Baums etwa fünfzig Meter von ihrem geplanten Treffpunkt entfernt. Mundts Kugel hatte dem Mann die Schulter zerschmettert, und bei dem anschließenden Sturz vom Baum hatte er sich ein Bein gebrochen.
»Wir brauchen ihn, um ihn zu befragen«, sagte Mundt, ohne Danielle Beachtung zu schenken. »Und das kann ich am besten.«
Er brauchte nicht lange, um aus dem Mann die Information herauszuholen, die er haben wollte, und ihn dann zu zwingen, den Anruf zu machen, den Anna Krieger erwartete.
Danielle beobachtete, wie der Mann die Nummer in sein Mobiltelefon eintippte, und hörte ihn dann sagen: »Auftrag erledigt.«
Dann zog der Mann blitzschnell ein Messer hervor, das er am Körper verborgen hatte, und holte damit aus. Mundt reagierte gerade noch rechtzeitig und feuerte auf den Mann, der leblos zurückfiel.
»Was erwarten Sie zu finden, wenn wir in New York sind?«, fragte Danielle nun Karl Mundt, als sie in den frühen Morgenstunden beinahe ganz allein in der internationalen Abflug-Lounge des Charles-de-Gaulle-Flughafens saßen. Der Flug zum Kennedy Airport in New York hatte wieder Verspätung, eine weitere Verzögerung auf dem langen Umweg, den sie von Polen aus gewählt hatten, für den Fall, dass Anna Krieger ihre List durchschaut hatte.
»Praktisch das Gleiche wie Sie«, erwiderte Mundt. »Die Wahrheit über meinen Vater.«
»Die Wahrheit wird jetzt nichts ändern«, sagte Danielle.
»Dann wird sie Genugtuung bringen. Das ist es doch, was wir beide uns wünschen.«
»Sie wollen Paul Hessler töten, nicht wahr?«
Mundt versteifte sich. »Er ist nicht Paul Hessler. Er ist Karl Mundt, der tapfere Soldat, der von seiner Frau und seinem Kind davonlief.« Er schaute Danielle an, und sein Gesicht verzog sich vor Schmerz. »Mein Vater lief von seiner Familie fort, während Ihr Vater zu seiner Familie lief.«
»Das wissen Sie nicht«, sagte sie. »Ich würde es spüren, wenn es so gewesen wäre.«
»Woher, Barnea? Meinen Sie, der Teufel kennzeichnet Menschen mit verschiedener Hautfarbe oder unterschiedlichem Geruch?« Mundt schüttelte den Kopf. »Wenn das der Fall wäre, hätten Polizisten wie Sie einen leichten Job. Aber das Böse sieht nicht unterschiedlich aus. Es verbirgt sich hinter Masken und falschen Fassaden, die es ihm erlauben, zu blühen und zu gedeihen. Die wahren Bösen sind die Bestien, die von den Wächtern des Tores vernichtet werden. Die wahren Bösen verstecken sich in der Verkleidung von Männern, die jeder für gut und freundlich hält. Sie sind die gefährlichsten Ungeheuer – diejenigen, die nur von den Wächtern des Tores identifiziert werden können.«
Danielle ließ sich nicht von ihrer Meinung abbringen. »Ihr Vater. Nicht meiner.«
Mundts Blick wurde weicher. »Ihrer ist ohnehin tot, und das erspart Ihnen die Qual einer Entscheidung. Die Qual, es zu erfahren.«
»Oh, ich werde es erfahren«, sagte Danielle entschlossen. »Genau wie Sie gesagt haben. Ich werde es von dem einen Mann erfahren, der es mir sagen kann.«
ACHTER TAG
77.
Paul Hessler stand auf der Verbindungsbrücke zwischen den beiden Wolkenkratzertürmen und schaute über den East River. Er brauchte sich nur zu drehen, und ganz Manhattan lag unter ihm. Normalerweise liebte er diese Aussicht, besonders von der einzigen himmelhohen Brücke in den Vereinigten Staaten. Es war sein liebstes Merkmal des Gebäudes, das er hatte erbauen und mit voller Kapazität hatte vermieten lassen. Die Wartezeit für Interessenten von Büroräumen in den Türmen wurde auf fünf Jahre geschätzt.
Aber heute war etwas anders als sonst. Heute, als die Dämmerung sich über New York senkte, fand Paul Hessler keine Freude an diesem Anblick oder an sonst etwas. Die Kondolenzempfänge waren vorüber.
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