Die Hüter der Nacht
zurückrufen, Inspector?«
»Das werden Sie nicht tun wollen. Wirklich nicht.«
»Aber wenn es nicht um die Ermordung meines Sohnes geht, was hat es dann mit ihm zu tun?«
»Projekt vier-sechs-null-eins«, sagte Ben.
Paul Hessler wurde kreidebleich.
80.
Die zwölf Wächter des Tores, die Anna Krieger in die Vereinigten Staaten begleiteten, flogen zu drei verschiedenen Flughäfen im Nordosten. Da sie keine Waffen ins Land einführen konnten, lauteten Annas Anweisungen, sich mit einem amerikanischen Kontaktmann auf einem Hotelparkplatz in Connecticut zu treffen, kurz vor der Grenze New Yorks. Dort würden sie mit ihr und drei amerikanischen Fahrern zusammentreffen und dann gut bewaffnet nach New York City fahren, um Karl Mundt zu exekutieren, besser bekannt als Paul Hessler.
Anna hatte einige nachrichtendienstliche Informationen über Hessler erhalten. Nicht genug, um einen konkreten Angriffsplan zu entwickeln, jedoch ausreichend, um ihr zu ermöglichen, eine Reihe von Alternativen auszuwählen, die gleichermaßen risikobehaftet waren. Durch Zufall hatte Anna bei ihrer Ankunft in Connecticut von ihrem Informanten erfahren, dass Hessler ausgerechnet in dieser Nacht unerwartet in seinem Büro aufgehalten wurde. Sie hatte bei ihrer Planung eine Nacht zum Zuschlagen einbezogen, doch die Gelegenheit, Hessler im Schutz der Dunkelheit zu erledigen, war zu gut, um sie ungenutzt zu lassen. Ein Frontalangriff, wenn er an diesem Abend das Gebäude verlassen würde, war vielleicht die beste und einzig durchführbare Wahl.
Für Anna war die lange Reise problematisch gewesen. Sie war es nicht gewohnt, unter Leuten zu sein, geschweige denn zu reisen. Schlimmer noch, durch die trockene Luft im Flugzeug war ihre dicke Make-up-Schicht aufgesprungen, was eine Reihe der anderen Passagiere veranlasst hatte, sie erschreckt anzuschauen. Sie hasste dieses Starren der Leute, das ihr das Gefühl gab, ein Monstrum zu sein; zugleich begrüßte sie es, weil es sie in ihrem Entschluss bestärkte.
Ihr Gesicht war schließlich eine ständige Erinnerung daran, was Männer wie Karl Mundt ihr und ihren Eltern angetan hatten. Immer wenn ihre Entschlossenheit nachließ oder ihr Zweifel kamen, brauchte sie sich nur an die schrecklichen Schreie ihrer Eltern und die Schmerzen zu erinnern, die sie in den Flammen erlitten hatte. Sie würde niemals den Gestank von verbranntem Haar oder die Geräusche vergessen, als ihre Haut wie Speck in der Pfanne gebrutzelt hatte, bevor sie sich durch die Flammen aus dem Fenster geworfen hatte und im nassen Dreck des Gartens gelandet war. Sie hatte immer noch geschrien, als sie von Nachbarn gefunden worden war, teils um die Todesschreie ihrer Eltern zu übertönen, teils aus eigenem Schmerz.
In jener Nacht war sie ein Ungeheuer geworden; ohne Freunde, verwaist und ausgestoßen. Doch der Hass in ihr war ebenfalls entfacht worden, und keine fruchtlose plastische Chirurgie hatte ihn unterdrücken können. In den folgenden Jahren hatte sie nur für ein Ziel gelebt: die Arbeit zu beenden, die ihre Eltern begonnen hatten. Den Letzten derjenigen auszulöschen, die Hakenkreuze auf ihren Uniformröcken und in ihren Herzen getragen hatten.
Doch deren Zahl nahm ab. Nur ein paar alte harmlose Männer gab es noch hier und da. Der verstorbene Abraham Vorsky hatte in diesem Punkt Recht gehabt; Annas Zeit und ihr Lebensziel waren Relikte der Vergangenheit. Sie musste Schluss damit machen.
Aber zuerst war da noch Karl Mundt, ein Mann, der seinen Mord an einem jüdischen Jungen zu einem Multimilliarden-Dollar-Vermögen ausgebaut hatte. Die angeblichen Wohltaten und Großzügigkeiten von Paul Hessler, zu dem Mundt geworden war, konnten daran ebenso wenig ändern, wie Anna ihr Gesicht ändern konnte, dessen Spiegelbild sie sah, wenn sie die dicke Schminkschicht auf ihre Brandnarben auftrug.
Karl Mundt verkörperte genau den Grund, weshalb ihre Eltern sich entschieden hatten, Wächter des Tores zu werden, wofür sie schließlich auf grauenvolle Weise gestorben waren. Auch Anna würde heute Nacht vielleicht sterben. Selbst wenn sie hier in New York City Erfolg haben sollte, konnte sie gefasst und verurteilt werden, um ihr Leben als die Gefangene zu beenden, die sie ohnehin lange Zeit gewesen war.
81.
»Was ich Ihnen zu sagen habe, wird für Sie nicht leicht zu verkraften sein«, fuhr Ben fort, bevor die Farbe in Paul Hesslers Gesicht zurückkehren konnte.
»Mein Sohn ist tot, Inspector. Es kann nicht schlimmer sein als
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