Die Hüter der Nacht
habe?«
Baruchs dunkle Augen schienen noch tiefer in seinem Schädel zu versinken. »Das juckt mich nun wirklich nicht. Es ist nicht mehr mein Problem.«
»Es war Hessler persönlich, der die Nationalpolizei anrief, um sicherzustellen, dass der Fall mir zugeteilt wird. Er muss den Mossad angerufen haben, dass er uns abgenommen wird. Aber warum? Gestern wollte er unbedingt, dass ich herausfinde, warum er das Ziel des Mordanschlags gewesen ist. Warum hat er es sich anders überlegt?«
»Ich wiederhole, das juckt mich nicht«, sagte Baruch unwirsch. »Mich interessieren nur die Fälle, die meinen eigenen Ermittlern zugeteilt sind. Zum Beispiel der, den Sie gestern hätten abschließen sollen. Da fällt mir ein, dass Sie den Bericht noch nicht abgeliefert haben.«
»Sie haben mir die Ermittlung im Fall Hessler zugeteilt, bevor ich mit der Schreibarbeit fertig war. Es ist nur eine Formalität«, log Danielle. »Ich werde Ihnen den Bericht vorlegen, sobald ich kann.«
»Ich bitte darum. Heute Morgen habe ich einen anderen Fall auf Ihren Schreibtisch gelegt. Ich schlage vor, Sie beschäftigen sich damit und mit dem Fall Saltzman, anstatt Ihre Gedanken an einen Fall zu verschwenden, der nicht mehr Ihrer ist.« Baruch hielt kurz inne; dann fügte er hinzu: »Es ist an der Zeit, dass Sie Ihre Grenzen kennen lernen, Pakad.«
»Eine schwierige Aufgabe, wenn diese Grenzen von Ihnen verändert werden, Rav nitzav.«
In ihrem Büro rekonstruierte Danielle die Tätowierung auf dem Arm des Killers so gut sie konnte. Sie hatte sie perfekt in Erinnerung, doch ihre zeichnerischen Fähigkeiten reichten nur zu einem vagen Umriss. Trotz Kugelwunde, Glasauge und möglichem Dienst für die Amerikaner entweder im Zweiten Weltkrieg oder im Koreakrieg war die Tätowierung des Täters wahrscheinlich der beste Anhaltspunkt, um seine Identität festzustellen.
Natürlich gehörte dieser Fall nicht mehr Danielle; ihre Fälle lagen in Aktenheftern, die sie bei dem Versuch voll gekritzelt hatte, die Tätowierung des Killers zu zeichnen.
Ein Wurm, der ein Messer hält, von dem Blut tropft …
Aber welche Art Wurm? Und was hatte das Messer zu bedeuten?
Eines nach dem anderen.
Danielle schob die Akte Michael Saltzman beiseite und überflog rasch den Inhalt der Akte, die Moshe Baruch an diesem Morgen auf ihren Schreibtisch gelegt hatte. Ein dreizehnjähriger Junge war bei einem Fahrradunfall ums Leben gekommen. Schädelbruch, denn er hatte keinen Helm getragen. Der Junge hatte zwei Wochen im Koma gelegen, bis sein Hirntod festgestellt worden war und seine Eltern die Apparate hatten abstellen lassen.
Er passte also nicht ins Profil von Michael Saltzman und den anderen toten Schülern, die bis vor kurzer Zeit die Gemeinschaftsschule außerhalb Jerusalems besucht hatten. Danielle schloss die Akte über den dreizehnjährigen Jungen und schob sie zur Seite.
Sie schloss die Augen, lehnte sich im Stuhl zurück und ließ die Fälle vor ihrem geistigen Auge vorüberziehen.
Nach allem, was sie gehört hatte, war das erste Opfer das israelische Mädchen gewesen, Beth Jacober, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Der Tod dieses Mädchens hatte vielleicht etwas mit Michael Saltzmans angeblichem Selbstmord zu tun, wie die Mutter des Jungen erklärt hatte.
Sie musste mit den Eltern des Mädchens sprechen, das bei dem Autounfall gestorben war. Die Einzelheiten erfahren. Ihre Trauer kennen lernen.
O Gott …
Sie fühlte sich wie ein Ungeheuer, das im Leben anderer Menschen herumschnüffelte, um ihr eigenes besser zu verstehen, und das Trost darin fand, dass der Schmerz anderer schlimmer war als ihr eigener – eine Therapie für ihr eigenes seelisches Leid, dass sie seit dem Gespräch mit Dr. Barr an diesem Morgen plagte.
Drei Schüler, die dieselbe Schule besucht hatten, waren tot. Ermordet. Vielleicht von ein und demselben Täter.
Warum?
Moshe Baruch interessierte das nicht. Für ihn waren es nur Fälle, in denen ermittelt werden musste, um sie, Danielle Barnea, weiterhin leiden zu lassen.
Nun, sie war entschlossen, Baruch eine Überraschung zu bereiten. Sie würde ihm eine Antwort bringen, die er nie erwartet hätte.
Wenn die Schüler ermordet wurden – warum?
Danielle wusste, dass sie die Antwort finden musste.
Für ihr eigenes Kind.
Für sich selbst.
21.
Ben wartete wie verabredet in der Amman Street gegenüber von Jerichos Polizeirevier, als der Minivan am Straßenrand stoppte. Er sah ein halbes Dutzend Schulkinder,
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