Die Hüter der Nacht
solange sie arbeiten. Wenn Sie diese Leute aufs Geratewohl töten lassen, nehmen Sie ihnen diese Hoffnung. Sie schaden Ihrem eigenen Ziel, Hauptsturmführer.«
Weiss zwängte sich zwischen den Schreibtisch und den jungen SS-Mann. »Als ich Sie kennen lernte, erwartete ich Großes von Ihnen. Ich sah Sie als Führer eines Stoßtrupps oder wenigstens einer Wacheinheit. Aber Sie haben mich enttäuscht, Mundt. Ich weiß, was Sie hier vorhaben – halten Sie mich nicht für ahnungslos. Sie glauben, dass der Krieg bereits verloren ist. Sie hören auf die Gerüchte von der Front, auf die Propaganda, die von unseren Feinden verbreitet wird. Deshalb machen Sie sich Sorgen, was man mit Ihnen als Kriegsverbrecher tun wird, welches Urteil man über Sie spricht. Sie wollen zu Ihrer Frau und dem Kind zurückkehren, und diesen Wunsch stellen Sie über Ihren Dienst für das Reich. Sehe ich das richtig, Mundt?«
»Nein, Hauptsturmführer, Sie sehen das falsch!«
»Dann korrigieren Sie mich. Erklären Sie mir die Art Ihrer Beziehung zu dem Hessler-Jungen.«
»Jeder Arbeiter ist für die Produktion von vier Komma zwei Paar Stiefeln pro Tag verantwortlich, Hauptsturmführer. Wie kann er sein Soll erfüllen, wenn er arbeitsunfähig ist?«
»Aber Sie haben solche Extrawurst keinem anderen kranken Gefangenen gebraten. Ich habe Sie nicht weinen sehen, als wir die Leichen der anderen begraben haben, die abgekratzt sind.«
»Ein Grund mehr, dass wir es uns nicht leisten können, noch mehr gute Arbeiter zu verlieren.«
Weiss starrte Mundt in die Augen. »Halten Sie mich für einen Blödmann, Mundt?«
»Nein, Hauptsturmführer.«
»Dann glauben Sie auch nicht, dass ich zu dumm bin, um zu erkennen, was zwischen Ihnen und Hessler los ist?«
»Da ist nichts, Hauptsturmführer.«
Weiss nickte wissend. »Er ist ein hübscher Knabe, nicht wahr, Mundt?«
Mundts wie versteinert wirkendes Gesicht zeigte zum ersten Mal eine Regung. »Wie meinen Sie das, Hauptsturmführer?«
»Die ganze Zeit, die Sie mit ihm allein verbracht haben … was spielte sich zwischen euch ab? Das, was ich vermute?«
»Nein, Hauptsturmführer!«
»Was würde Ihre Frau denken, wenn sie davon erfährt? Wie würde Ihr Kind sich fühlen, wenn es in Schande aufwächst?«
»Ich versichere Ihnen, dass ich nicht …«
»Wenn Sie den Jungen nicht ficken, worauf sind Sie dann aus?«
»Das habe ich Ihnen bereits gesagt, Hauptsturmführer.«
»Wenn ich Ihnen jetzt befehlen würde, Hessler zu töten, würden Sie es tun?«
»Ich würde es tun, Hauptsturmführer. Aber ich wäre gezwungen, eine Meldung zu machen und Ihr Urteilsvermögen und Ihre Fähigkeit als Leiter dieses Lagers in Zweifel zu ziehen.«
»Soll das eine Drohung sein, Mundt?«
»Es ist eine Pflicht, Hauptsturmführer. Es geht mir nur um das Reich. Alles, was ich tue, ist zum Besten des Reiches.«
Weiss verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Ich weiß, dass Sie etwas im Schilde führen, Mundt, und ich werde herausfinden, was es ist. Sie sind für mich eine Herausforderung geworden. Deshalb befehle ich auch nicht, Sie an Hesslers Stelle zu erschießen. Aber bedenken Sie bei allem, was sie tun, dass ich Sie im Auge behalte.«
Monate später, kurz nachdem Befehle kamen, das Arbeitslager aufzulösen und die verbliebenen Gefangenen zu exekutieren, blickte Weiss aus seinem Fenster und sah etwas Überraschendes. Er sah, wie Paul Hessler Karl Mundt eine Kugel in den Kopf schoss. Der Hauptsturmführer hätte vielleicht eingegriffen, hätte er sich nicht selbst auf die Flucht vorbereitet. Aber er fand auch tiefe Genugtuung: Mundt hatte Hessler fast ein Jahr lang am Leben gehalten, nur um von ihm erschossen zu werden – dem Mann, den er gerettet hatte. So waren seine Bemühungen belohnt worden! So war sein raffinierter Plan ausgegangen!
Während Weiss zuschaute, hängte sich Hessler einen kleinen Rucksack auf den Rücken und begann Mundts Leiche in den Wald jenseits der Fabrik zu schleifen, wo er sie vermutlich begraben wollte. Dichter Nebel stieg auf und verschluckte fast sofort den Jungen und seine Last – es war das letzte Mal, dass Günther Weiss einen der beiden sah.
Anstatt zu bleiben, um die Auflösung des Lagers zu beaufsichtigen, versuchte Weiss, ebenfalls zu flüchten, wurde jedoch von einem russischen Trupp gefunden. Er verlangte, auf der Stelle exekutiert zu werden, wurde jedoch verhaftet und als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt. Er gähnte, als das Urteil verkündet wurde:
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