Die Hüter der Nacht
war, als er erfahren hatte, dass die Burg nur knapp 50 Kilometer vom Arbeitslager bei Lodz entfernt gewesen war. Es war ihm zu jener Zeit viel weiter vorgekommen.
Er wünschte sich, wieder im Jahr 1944 zu sein, wünschte sich eine Chance, ganz von vorn anfangen zu können, die Dinge in Ordnung zu bringen, angefangen mit der Nacht, in der er zum ersten Mal auf diese Burg gestoßen war. Seit dem Tag, als er erfahren hatte, dass polnische Beamte die Zerstörung der verfallenen Burg befohlen hatten, hatte es sechs Jahre und Abermillionen Dollar gekostet, um das Gebäude hierher nach New Jersey zu verpflanzen. Natürlich war es für Paul nicht leicht gewesen, die Leute, besonders die Medien, davon zu überzeugen, dass er aus einer Laune heraus handelte – ein alter Mann, dem es widerstrebte, einen wesentlichen Teil seiner Vergangenheit einfach zu vergessen.
Er hatte sie alle getäuscht.
In Wahrheit war die Burg ihm gleichgültig. Sie hatte sich seit der Nacht verändert, in der er sie zum ersten Mal gesehen hatte, und nicht zum Besseren. Zerstört und im schlammigen, stinkenden Boden, auf dem sie im 15. Jahrhundert von einem normannischen Prinzen im Exil erbaut worden war, hätte sie ihm genauso gut gefallen. Und wenn es hätte sein müssen – Paul hätte sogar persönlich die Abrissbirne betätigt.
Aber das konnte er nicht wegen des Geheimnisses, das immer noch in den Mauern der Burg verborgen war. Ein Geheimnis, das er um jeden Preis bewahren musste.
Paul Hessler fröstelte im kühlen Luftzug, als die schwere Eichentür hinter ihm zufiel. Arbeitslampen hingen von der Decke; ihr Licht zerschnitt die sonst undurchdringliche Schwärze, an die er sich von seinem ersten Besuch vor 57 Jahren erinnerte, als er in der Nacht mitten in einem Unwetter durch Zufall auf die verfallene Burg gestoßen war.
Ein Geschenk Gottes – das war diese Burg gewesen. Paul war überzeugt, dass er gestorben wäre, hätte das Gemäuer ihm nicht Ende 1944 Schutz gewährt. Seine Kleidung war vom Regen durchtränkt gewesen, sein karger Vorrat an Lebensmitteln war vor vielen Kilometern im Sturm und Unwetter verloren gegangen. Das einzige Licht auf diesen Kilometern war das von Blitzen gewesen, und einer dieser Blitze hatte die Burg auf der Hügelkuppe aus der Dunkelheit gerissen.
Zunächst war sie ein Ziel gewesen, aus dem Unwetter herauszukommen. Paul war an der Mauer innen neben dem Portal zusammengebrochen, hatte dem Prasseln des Regens auf die steinerne Fassade gelauscht … und hatte zum ersten Mal den kalten, modrigen Geruch der Burg wahrgenommen.
Plötzlich war ihm ein anderer Geruch in die Nase gestiegen. Zuerst hatte Paul Hessler es nicht glauben können. Eine Halluzination, Einbildung, hatte er sich gesagt. Doch der Geruch war geblieben, und schließlich war Paul Hessler aufgesprungen.
Was in den nächsten fünf Minuten geschah, war der wahre Grund, weshalb Paul Hessler unglaubliche Summen bezahlt hatte, um diese Burg zu kaufen, sie Stein für Stein und Stück für Stück auseinander nehmen und hier in den Vereinigten Staaten wieder zusammensetzen zu lassen, wo sein Geheimnis nun für immer sicher sein konnte. Paul fragte sich, was geschehen würde, wenn die Welt die Wahrheit über jene Nacht erführe, in der er zum ersten Mal auf die Burg gestoßen war.
Bei diesem Gedanken erschauerte er.
61.
Danielle blickte auf die Landschaft, die an den Fenstern des Wagens vorbeizufliegen schien, während die Fahrt, die beim Pflegeheim begonnen hatte, sich bis tief in die Nacht hinzog. Sie saß auf dem Rücksitz zwischen zwei hageren und muskulösen Männern, die sie nicht zu beachten schienen. Dass die Männer ihr nicht die Hände zusammengebunden oder sie mit Handschellen gefesselt hatten, war eine Lektion an sich: Sie sahen keine Bedrohung in ihr. Danielle hatte Männer mit solchen Mienen schon gesehen, hauptsächlich in der Armee, als sie bei den israelischen Special Forces gedient hatte. Doch diese Männer waren keine Israelis; das stand fest. Sie waren Deutsche.
Keiner der Insassen des Wagens sprach auch nur ein Wort während der langen Fahrt, die scheinbar ziellos war, bis sie die Stadt Mönchengladbach erreichten. Nach weiteren fünf Minuten Fahrt gelangten sie an den Bökelberg, einen Hügel mit großen Villen. Je höher es den Hügel hinaufging, desto größer und vereinzelter wurden die herrschaftlichen Wohnhäuser. Einige der Grundstücke waren mit hohen Zäunen eingefriedet, und die Villen waren von dichtem Buschwerk
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