Die Hüter der Nacht
lebenslänglich.
Es dauerte zwanzig Jahre, bis die Welt so weit vergessen hatte, sodass Weiss' Freilassung möglich wurde. Ironischerweise konnte er nur eine Stelle als Arbeiter und später Vorarbeiter in einer Fabrik finden, die Schuhe herstellte. Günther Weiss kannte den Geruch von Farb- und Gerbstoffen und rohem Leder gut. Die Welt mochte sich verändert haben, dieser Gestank nicht.
Danielle wusste von der Empfangsdame im Erdgeschoss, dass Weiss seit über sechs Jahren in dem Pflegeheim war, nach einer kurzen Zeit des Ruhestands im Anschluss an die Arbeit in der Fabrik, die er soeben beschrieben hatte. Asher Bains Interesse an diesem alten Mann musste etwas mit Paul Hessler zu tun gehabt haben. Hessler war das einzig denkbare Bindeglied. Doch Weiss' Geschichte hatte nur eine Lücke in Paul Hesslers Lebenslauf gefüllt, über die der große Mann verständlicherweise nicht sprechen wollte, weil sie zu schmerzlich war. Zu traurig.
Was ist mir entgangen?, fragte sich Danielle. Hessler war die Verbindung zu allem. Er hatte überlebt, weil er 1944 aus dem Arbeitslager bei Lodz entkommen war, nachdem er den Wächter erschossen hatte, der ihm Freundschaft erwiesen hatte. Konnte das der Schlüssel zu dem sein, was Bain beinahe entdeckt hatte? Nur Weiss konnte die fehlenden Puzzlestücke zur Klärung des Warum liefern. Was war in den letzten Kriegstagen passiert?
»Ich möchte mehr über Paul Hessler hören, Herr Weiss«, drängte Danielle den Mann im Rollstuhl. »Wir sind noch nicht fertig.«
Doch die Aufmerksamkeit des alten Mannes galt nicht mehr ihr. Ein neuer Zeichentrickfilm hatte begonnen, und er verrenkte sich beinahe den Hals, um an Danielle vorbei auf den Fernseher zu schauen. Als es ihm nicht gelang, versuchte er, Danielle mit seinen knochigen Armen fortzuschieben.
»Das reicht, Chief Inspector Barnea!«
Danielle erkannte die Stimme der Empfangsdame aus dem Erdgeschoss und wandte langsam den Kopf. Hinter ihr in der Tür standen zwei Männer.
»Diese Herren sind von der Polizei«, sagte die Empfangsdame. »Sie möchten sich Ihren Ausweis genauer ansehen.«
Danielle wusste, dass es keine Polizisten waren, und wünschte sich die Waffe herbei, die sie vor dem Flug nach Deutschland hatte zurücklassen müssen. Die Empfangsdame warf jedem der beiden Männer einen Blick zu.
Sie kennt sie, hat sie schon zu dem Pflegeheim gerufen …
»Kommen Sie bitte mit nach unten«, sagte der größere der beiden Männer. »Es dürfte nicht lange dauern.«
Danielle wog ihre Chancen ab und verfluchte, dass sie niemandem außer Ben von ihrer Reise erzählt hatte. Sie bewegte sich langsam von Günther Weiss fort und überließ ihn seinem Trickfilm, näherte sich der Tür, bereit, den kleineren der beiden Männer anzugreifen, wenn sie in seine Reichweite gelangte. Ihn kampfunfähig machen und seine Waffe nehmen, solange das Überraschungsmoment auf ihrer Seite war … Dann glitt Danielles Blick an den Männern vorbei zum Flur.
Zwei weitere Männer waren zu beiden Seiten des Aufzugs postiert, die Hände in die Jacketts geschoben; sie standen so starr und steif da wie Schaufensterpuppen.
»Wenn Sie uns jetzt begleiten wollen, Chief Inspector Barnea …«, sagte der größere Mann und ergriff ihren Unterarm.
59.
»Da ist sie«, sagte Jane Wexler, die Schuldirektorin, als sie vor dem Computer in ihrem Büro saß. »Die E-Mail-Korrespondenz, die seit Jahresanfang von der Schule aus geführt wurde.«
Ben spähte über ihre Schulter. »Sie sagten, niemand sonst hat jemals diese Liste überprüft?«
»Es war eine strikte Vorsichtsmaßnahme, wie schon gesagt.« Dann fügte sie mit einer Spur von Ironie hinzu: »Niemand hatte einen Grund, sie zu überprüfen.«
Ben blickte weiterhin auf den Bildschirm. Irgendwo inmitten des Materials befanden sich höchstwahrscheinlich die Erpressungsopfer der Schüler, von denen eines ihr Mörder war. Aber wie sollte er diese Erpressungsopfer identifizieren?
»Was kommt als Nächstes?«, fragte er. »Und entscheiden Sie sich jetzt nicht anders, Miss Wexler. Dann wäre ich gezwungen, Sie anzuzeigen.«
Jane Wexler tippte wieder auf der Tastatur. »Wir können alle E-Mails seit dem Tod der Schüler und vor dem Beginn ihrer Schulzeit ausschließen.« Sie wartete, bis der Computer genau dies tat.
»Und jetzt?«, drängte Ben.
»Haben Sie die Namen der Firmen, die Sie im Verdacht haben, in die Sache verwickelt zu sein?«
Ben zog die Liste mit den Namen, die er von Tabar Azziz bei der Firma
Weitere Kostenlose Bücher