Die Hüter der Nacht
stahl sich auf Annas Gesicht, das immer noch teilweise im Schatten war. »Auf dem Tisch zu Ihrer Rechten liegt ein Foto. Bitte nehmen Sie es.«
Danielle trat an den Rand des Teppichs und sah auf einem kleinen Beistelltisch ein Schwarzweißfoto liegen, das ein zerfurchtes Gesicht mit harten Zügen und einer dichten Haarfülle zeigte, die das Alter des Mannes Lügen strafte.
»Kennen Sie diesen Mann, Chief Inspector?«
»Ich habe ihn noch nie gesehen.«
»Dann haben Sie nie von Hans Mundt gehört?«
»Weiss sprach von einem Karl Mundt.«
»Das stimmt. Karl ist Hans Mundts Vater. Hans ist der Mann auf dem Foto. Er hat sein Gewerbe vor Jahren bei der Stasi in der ehemaligen DDR erlernt. Hans Mundt lieferte die Namen der drei Männer, die vor drei Tagen in Israel ermordet wurden, zusammen mit einer Reihe anderer Namen.«
»Dem meines Vaters!«
»Ihr Vater ist bereits tot. Das hätte keinen Sinn gehabt.«
»Warum wollte Mundt den Tod dieser drei Männer, und warum interessiert Sie das?«
»Weil sie Nazis waren, Chief Inspector.«
62.
Auf der Fahrt in seinem alten, grünen Peugeot in die West-Bank dachte Ben über die Computersuche der E-Mail-Korrespondenz zwischen der Schule und den Firmen nach, deren Bürogeräte von Abasca Machines gewartet wurden. Es hatte vier Übereinstimmungen gegeben. Nicht eine, sondern vier. Es war kein Erpressungsversuch aufs Geratewohl gewesen, der tragisch mit der Ermordung der Schüler geendet hatte, kein Spiel, das schief gegangen war. Die Erpresser hatten das ganz große Geld kassieren wollen. Niemand wusste, wie viel auf die Konten der Schüler überwiesen worden war, die sie elektronisch eröffnet und sofort nach der Überweisung leer geräumt hatten. Bei dem Geld, das Danielle unter Michael Saltzmans Bett gefunden hatte und das von Jane Wexler erpresst worden war, handelte es sich vermutlich nur um einen kleinen Teil der Beute.
Und hier hatten die Schüler ihren größten Fehler begangen: Beth Jacober musste das Geld von dem Konto, das sie elektronisch eröffnet hatten, in bar abgehoben haben, um Jane Wexler zu bezahlen – und das hatte jemand beobachtet. Das Abheben so großer Summen war leicht zu verfolgen und musste die Killer aufmerksam gemacht haben. Als sie Beth Jacober überprüften, wurde ihnen klar, dass sie einen ihrer Erpresser gefunden hatten.
Ben erinnerte sich an die Diskrepanz, die Danielle aufgefallen war. Zwischen der Zeit, in der Beth Jacober die Geburtstagsparty ihres Freundes verlassen hatte, und dem angeblichen Autounfall gab es eine Lücke. Genügend Zeit für die Killer, die Identität ihrer Komplizen aus Beth Jacober herauszuholen. Drogen oder Folter machten schnell gefügig. So hatten die Killer sich die Namen aller vier Schüler verschafft – fünf, einschließlich Zeina Ashawi –, und dies erklärte auch, weshalb Beth als Erste hatte sterben müssen.
Jane Wexlers Erpressung hatte das alles herbeigeführt, hatte die Schüler gezwungen, sich eine Blöße zu geben. Wäre Wexler nicht gewesen, würden die Schüler noch leben, davon war Ben überzeugt.
Er dachte noch einmal über die Liste der möglichen Verdächtigen nach.
Die Erpressungsopfer der Schüler waren bekannte Firmen und Gesellschaften. Doch eine stach wegen ihrer Größe und Macht hervor:
Hessler Industries.
Der Zusammenhang mit Danielles Ermittlungen drängte sich auf. Das konnte kein Zufall sein. Aber wie sah die Verbindung aus?
Ben überlegte seinen nächsten Schritt. Er hatte jetzt die Namen von vier Firmen, deren Büromaschinen von Abasca Machines gewartet wurden und mit denen die Schüler vor ihrer Ermordung sehr wahrscheinlich Verbindung gehabt hatten: eine Anwaltskanzlei, ein palästinensisches Investment-Konsortium, eine Makleragentur und schließlich die Büros der Hessler Industries in Tel Aviv.
Ben musste eine Möglichkeit finden, Zugang zu den Firmen auf der Liste zu bekommen, doch es war nahezu aussichtslos. Sie waren alle vier verdächtig, aber es mangelte ihm an Beweisen, die er brauchte, um eine offizielle Ermittlung vorzunehmen. Außerdem würde keine der Firmen zur Zusammenarbeit bereit sein, weil dies ein Eingeständnis wäre, dass sie die Forderungen der Erpresser erfüllt hatten. Und was immer die Schüler herausgefunden hatten, war offenbar so brisant, dass die Erpressungsopfer zu extremen Mitteln greifen würden.
Vier Firmen, drei in Israel und eine in der West-Bank … Ben musste herausfinden, welche hinter dem Tod von vier Jugendlichen steckte,
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