Die Hüter der Schatten
wegführten, würde unser inneres Selbst uns stets auf den richtigen Weg leiten. Ich weiß es einfach nicht. Warum erzählen Sie mir nicht, wie es bei Ihnen begonnen hat?«
Leslie fiel wieder ein, wie sie Susan Hamilton gesagt hatte, daß ihr und Chrissys Leben zu einem bestimmten Zweck verknüpft sei. Und doch hatte sie nie zuvor an die Reinkarnationslehre geglaubt. »Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll …«
»Am Anfang«, sagte Claire lächelnd.
Aber was war der Anfang gewesen? Der Moment nach Emilys Geburt, als Leslie ihrer Mutter erklärt hatte: Das ist mein Kind, nicht deins? Der Tag, an dem sie Juanita García tot in einem Abwasserkanal gefunden hatte? Die erste Manifestation von Eileen Grantsons Poltergeist in ihrem Büro? Oder der Abend, an dem Leslie – oder ihr Geist – Joel ohne bewußte Absicht ein Glas Wein ins Gesicht geschüttet hatte? Das alles erzählte sie Claire und berichtete außerdem über Phyllis Anne Chapman, den Geburtstagskuchen und die roten Lackschuhe, über den Streit mit Joel und den Abend, an dem das Telefon geklingelt hatte, obwohl der Hörer daneben lag, und wie die Türklingel anschlug, obwohl sie abgeschraubt gewesen war. Schließlich hielt Leslie inne und fragte sich, ob Claire jetzt wohl dasselbe von ihr dachte wie sie selbst von Chloe Demarest – nämlich daß sie eine abergläubische Närrin sei.
»Das war bestimmt sehr beängstigend«, bemerkte Claire.
»Bravo«, erwiderte Leslie trocken. »Klientenzentrierte Gesprächsführung.«
Ein wenig beschämt lachte Claire auf. »Ich habe schon als Therapeutin gearbeitet. Und die Gesprächstechnik habe ich mir von Alison abgeschaut. Sie meinte, wenn es schon nichts nütze, würde es mich zumindest davor bewahren, den Leuten ungebetene Ratschläge zu erteilen, wie Colin es heute morgen ausgedrückt hat.«
»Was war Alison Margrave eigentlich für ein Mensch? So, wie alle Leute reden, muß sie eine Heilige gewesen sein.«
»Das war sie ganz bestimmt nicht«, gab Claire prompt zurück. »Obwohl sie eine der freundlichsten Seelen war, denen ich je begegnet bin. Alison hatte den Fehler, zu gut von den Menschen zu denken, die sie liebte. Aber sie besaß das Temperament einer Musikerin, das nicht immer ausgeglichen ist, und hatte sehr festgefügte Ansichten. Dennoch mochte ich sie sehr … was mich zu einer Frage führt. Sie sagten, Sie hätten … ich weiß nicht, wie ich es nennen soll … Störungen, Poltergeist-Phänomene hier im Haus beobachtet?«
Leslie lachte beklommen. »Da ist ein Fenster, das sich nicht schließen läßt. Weder Emily noch ich können es längere Zeit geschlossen halten, selbst wenn wir eine Kette vor den Riegel legen. Wahrscheinlich steht es jetzt schon wieder offen. Und in der Garage stimmt etwas nicht. Emily und ich litten unter depressiven Verstimmungen, nachdem wir eine Zeitlang allein darin verbracht hatten. Aber in meinem Büro habe ich mich immer gefühlt wie in einem … nun ja, sicheren Hafen«, schloß sie langsam, weil ihr dies jetzt erst klar wurde. »Im Büro herrscht eine friedvolle Atmosphäre. Jedenfalls bis heute morgen.«
»Was ist dann geschehen?«
Leslie erzählte ihr von dem Wedgwood-Teller.
»Dürfte ich das Arbeitszimmer mal sehen?«
Als Leslie sich erhob, um ihre Besucherin dorthin zu führen, kam Emily ins Haus gestürmt.
»Oh, hallo, Claire. Ich hatte gehofft, daß Sie kommen würden! Les, hat jemand für mich angerufen? Wenn Frodo sich meldet, könntest du ihm sagen, daß ich bei Rainbow bin? Sie hat mich gebeten, heute abend auf Timmie aufzupassen und gesagt, Frodo könnte mir ruhig Gesellschaft leisten. Ich bin zum Abendessen nicht zu Hause, okay?«
Sie stürmte nach oben. »Wie war die Klausur in Musikgeschichte?« rief Leslie ihr nach.
»Ein Horror«, erwiderte Emily, »aber ich dürfte bestanden haben. Jetzt muß ich noch eine oder zwei Stunden üben.«
Als Emilys Tür zuknallte, seufzte Claire. »Wie ich das Mädchen um seine Energie beneide. Tja, ich werde älter. Früher habe ich den lieben langen Tag gearbeitet und war die ganze Nacht auf den Beinen, ohne etwas um Nebensächlichkeiten wie Schlaf, Essen oder Ruhe zu geben. Aber heute schaffe ich das einfach nicht mehr.«
»Das geht mir nicht anders«, gestand Leslie, »und dabei könnte ich mir vorstellen, daß ich ein paar Tage jünger bin als Sie.« Sie ließ Claire ins Arbeitszimmer.
Einen Moment stand die Ältere regungslos da, als lausche sie auf irgend etwas. Sie warf zuerst einen Blick auf die
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