Die Hüter der Schatten
umgekippte Kleenex-Schachtel und dann auf den Wedgwood-Teller. »Darf ich?« fragte sie und nahm den Teller auf. Vorsichtig berührte sie ihn mit den Fingerspitzen, hielt ihn sich kurz an die Stirn und die Schläfe und legte ihn dann zurück.
»Ich spüre nichts Besonderes«, erklärte sie. »Wären hier negative Energien am Werk, würde ich es wahrnehmen. Das Büro scheint mir so friedlich zu sein wie zu Alisons Zeiten. Ich frage mich«, meinte sie nachdenklich, »ob Alison einfach nur versucht hat, Ihre Aufmerksamkeit auf etwas Bestimmtes zu lenken …«
»Wenn das der Fall ist, dann ist es ihr gelungen«, meinte Leslie trocken. »Das Erlebnis hat mich nämlich dazu gebracht, im Buchladen Hilfe zu suchen. Aber es fällt mir schwer zu glauben, daß …« Sie zögerte. »Warum sollte eine Tote sich weiterhin dafür interessieren, was in der Welt der Lebenden vor sich geht?«
»Das liegt vielleicht daran, daß Sie die Natur des Todes nicht begreifen«, sagte Claire. »Aber wer tut das schon? Eine so große Veränderung ist der Tod gar nicht. Und Alison war zwar alt, hatte ihre Arbeit aber noch nicht abgeschlossen, als sie starb. Wenn Sie mal Alisons Niveau auf dem Pfad erreichen …«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, unterbrach Leslie die ältere Frau.
»Mit dem ›Pfad‹? Auf diese Weise umschreiben wir die Suche nach der Wahrheit. Menschen mit einem religiösen Ansatz – zum Beispiel neuzeitliche Hexen oder Anhänger archaischer Kulte – sprechen statt dessen manchmal von ihrem ›Handwerk‹, aber es läuft auf dasselbe hinaus. Das Bewußtsein, daß wir von einem Leben zum anderen weiterschreiten, um zu verwirklichen, wozu wir auf die Welt geschickt wurden. Ich bin kein religiöser Mensch«, fügte Claire hinzu, um sich sofort zu verbessern: »Das heißt, ich bin gläubig, hasse aber den Unsinn, den die Leute von sich geben, wenn sie über Gott reden.«
Leslie nickte verstehend.
»Sie sagten, Sie hätten noch andere Störungen bemerkt – dürfte ich mal das Fenster sehen, das sich immer wieder von selbst öffnet?«
Die Tür des Musikzimmers war geschlossen. Drinnen hatte Emily zu spielen begonnen, und donnernde Akkorde erfüllten das Haus. Leise führte Leslie die ältere Frau die Treppe hinauf und zeigte ihr unterwegs die Pentagramme, die über oder unter jeder Tür und jedem Fenster eingeritzt waren. Claire nickte. »Ich habe die Schutzzeichen selbst gesetzt«, erklärte sie, »als Alison nach ihrem ersten Schlaganfall im Krankenhaus lag. Sie wollte sichergehen, daß in ihrer Abwesenheit niemand ins Haus eindringen konnte.« Sie beugte sich über das Fenster, unter dem jemand das Symbol abgerieben oder ausgekratzt hatte, fuhr mit den Fingerspitzen sanft über das Zeichen und legte kurz die Stirn ans Fensterbrett.
»Das Fenster ist ungeschützt«, meinte sie schließlich, »trotzdem spüre ich nichts Unrechtes. Wenn überhaupt, ist die Wahrnehmung neutral. Sie sagten etwas von einer Katze?«
»Eine weiße Katze. Frodo sagt, sie habe Alison gehört«, antwortete Leslie.
»Die erste ihrer weißen Katzen habe ich selbst Alison vor vielen Jahren geschenkt. Mein altes Weibchen hat mehrmals weiße Junge geworfen«, erklärte Claire. »Ich glaube, das erste Tier hat Alison angenommen, um es vor dem Ersäufen zu retten, aber dann hat sie die Katzen liebgewonnen und wollte aus jedem Wurf eine. Zeitweilig besaß sie bis zu einem halben Dutzend, von denen sie aber die meisten abgegeben hat. Und in einer Großstadt kommen natürlich immer wieder Katzen um oder verschwinden.« Sie richtete sich auf und zeichnete mit den Fingerspitzen ein Pentagramm auf das Fensterglas und ein weiteres um das ausgelöschte Zeichen auf dem Sims herum.
»Ich kann die Schutzzeichen erneuern«, sagte sie. »Das beste wäre natürlich, das ganze Haus zu reinigen und von neuem zu versiegeln. Das sollten Sie aber selbst tun, dann ist die Wirkung viel stärker.«
»Und das würde die Katze fernhalten?«
»Wenn es sich um ein gewöhnliches Tier handelt, das durch ein offenes Fenster huscht, wahrscheinlich nicht«, erklärte Claire. »Ist die Katze aber entstofflicht, werden die Schutzzeichen dafür sorgen, daß sie sich auf ihre eigene Existenzebene beschränkt, und sie aus der irdischen Dimension fernhalten. Allerdings wird der Geist einer Katze niemandem Schaden zufügen, jedenfalls nicht mehr als ein lebendes Tier. Eher weniger, weil eine körperlose Katze weder die Möbel zerkratzt noch Schmutz hinterläßt. Ein Haus gegen
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