Die Hüter der Schatten
Mädchen dachte eine Zeitlang nach. »Ich war durcheinander«, erklärte sie dann, »weil Daddy gesagt hatte, ich könnte Mom besuchen. Wenn ich wollte, könnte ich sogar zu ihr ziehen. Da dachte ich, das würde bedeuten, er will mich nicht bei sich haben. Außerdem«, fügte Eileen nach kurzem Zögern schüchtern hinzu, »hat Mom in ihrem Brief geschrieben, daß sie ein Kind bekommt, und ich dachte …«, sie schluckte, brach aber nicht in Tränen aus, »ich dachte, daß sie bestimmt nicht will, daß ich sie jetzt besuche. Ich wollte erst zu Mom fahren, wenn ich mir sicher bin, was ich fühle. Das Problem war nur, daß ich wegen dieses Besuchs einen solchen Zirkus gemacht hatte. Ich habe mich nicht getraut, Dad zu sagen, daß ich in Wirklichkeit gar nicht nach Texas will. Und ich schätze, dann hat das, was Sie das Kind in mir nennen, diesen Aufstand veranstaltet, den ich selbst gar nicht machen wollte.«
»Genau so hört es sich an«, bemerkte Leslie, erfreut über Eileens Einsicht. »Sag mal, Eileen, hast du schon einmal absichtlich versucht, etwas auf diese Weise zu bewegen, nur mit deinen Gedanken? Durch bloßen Willen?«
Zögernd nickte Eileen. »Ich mußte immer wieder daran denken, was Sie gesagt hatten … daß diese Kraft mir gehört und ich in der Lage sein müßte, sie zu kontrollieren. Also habe ich es versucht. An dem Abend, nachdem sich alles ein bißchen beruhigt hatte. Und ich kann es tatsächlich. War aber nicht leicht. Passen Sie auf.«
Das Mädchen wies auf die Kleenex-Schachtel, die auf Leslies Schreibtisch stand. Die Pappschachtel wackelte, fiel auf die Seite, rutschte ein Stückchen weiter und blieb dann liegen.
»Die Frage ist also nicht, ob du Gegenstände allein kraft deines Geistes bewegen kannst, sondern ob du es willst«, stellte Leslie fest.
»Ich will es nicht«, erklärte Eileen entschieden.
Leslie nickte und nahm die Naturgeschichte des Poltergeists zur Hand. »In diesem Buch steht eine Geschichte über genau dieses Problem«, sagte sie und las vor: »Zu einer der bedeutendsten Inkarnationen Buddhas kam einst ein Mann und sagte: ›Zehn Jahre habe ich gefastet und gebetet, und siehe da, ich habe gelernt, mich in die Lüfte zu erheben und über den Fluß zu fliegen.‹ Doch der Buddha entgegnete: »Törichter Mensch, du hast zehn Jahre darauf verwendet, etwas zu lernen, das der Fährmann für einen geringen Lohn verrichtet hätte. Die kleine Münze hättest du mit einer Stunde ehrlicher Arbeit verdient. Und während jener zehn Jahre hättest du auf dieser Welt Großes leisten können, um das Leiden der Menschheit zu lindern. ‹«
Eileen lauschte schweigend und lächelte dann. »Und Sie meinen, ich könnte einen Termin mit meinem Dad machen, damit wir drei über alles reden?« fragte sie.
Leslie nickte, vereinbarte mit Eileen den Termin, und als das Mädchen sich verabschiedete, war Leslie sich nahezu sicher, daß dies der letzte Auftritt des Grantson-Poltergeists gewesen war.
14
Claire kam um halb sechs. Sie ließ sich zu einer Tasse Tee in der blitzsauberen Küche einladen und machte Leslie Komplimente über den Garten.
»Ich glaube, dafür müssen wir Frodo danken«, sagte Leslie. »Er und Rainbow haben Emily freundlicherweise geholfen, den Kräutergarten wieder in Ordnung zu bringen.«
Die ältere Frau nickte. »Frodo ist ein netter Junge. Wenn er älter ist, könnte er einer der Sucher werden. Ich halte nichts davon, daß junge Leute sich zu früh zu etwas verpflichten, ehe sie wissen, worum es in diesem Leben geht! Manche Menschen kommen natürlich schon alt zur Welt. Oder sie sind für den Pfad geboren, so daß ihnen keine andere Wahl bleibt. Wenn sie sich nicht auf die Erforschung des Unsichtbaren begeben, wird das Unsichtbare statt dessen nach ihnen suchen, ganz gleich, wo sie sich verbergen.«
»Wollen Sie damit sagen, daß wir keinen freien Willen besitzen, was solche Dinge angeht?« fragte Leslie verblüfft.
»Ich weiß es nicht«, gab Claire zurück und hob den Blick, um Leslie in die Augen zu schauen. »Colin und ich würden Ihnen darauf ganz unterschiedliche Antworten geben. Ich selbst bin überzeugt, daß wir frei entscheiden können. Colin glaubt, daß wir zwar einen freien Willen besitzen, dieser aber nicht immer unserer bewußten Wahl entspricht. Er meint, wir hätten diese Entscheidung möglicherweise schon vor unserer jetzigen Inkarnation getroffen. Und selbst wenn die Umstände unseres profanen Lebens oder unserer Erziehung uns vom Pfad
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