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Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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schwarzen Handschuh auszog und zu spielen begann. Eine traurige, intensive, schwebende Musik erfüllte den Raum. Leslie beobachtete Simons Gesicht, das abgespannt und regungslos wirkte. Bei solchen Gelegenheiten kam es ihr manchmal vor, als versuche er, hinter der Augenklappe seine Miene zu verbergen. Aber die Musik drückte seine Gefühle aus.
    »Was war das, Simon?« fragte Emily, als der letzte Ton verklungen war.
    »Der langsame Satz meines neuen Concertos, das ich bei meinem Comeback-Konzert spielen werde.«
    »Ich wußte gar nicht, daß du auch komponierst, Simon.« Emily lehnte sich an sein Knie.
    »Während meiner Konzerttourneen hatte ich wenig Zeit dafür, aber als ich im Krankenhaus lag, ging mir dieses Thema durch den Kopf. Wenn ich im Triumph auf die Konzertbühne zurückkehre, werde ich etwas Neues spielen und aller Welt beweisen, daß ich meine Zeit nicht vergeudet habe. Manche Musikkritiker können es gar nicht erwarten, einen Künstler fallen zu sehen; es ist nun einmal ihr Beruf, ständig für neue Sensationen zu sorgen. Damals konnten sie gar nicht schnell genug verkünden, daß ich endgültig erledigt sei und daß ich keine andere Wahl hätte, als zu komponieren, zu dirigieren oder zu unterrichten – all die Tätigkeiten, die auch ein zweitrangiger Musiker ausüben kann …«
    Emily stieß einen empörten Schrei aus.
    »Ein zweitrangiger Musiker hätte niemals dieses Konzert schreiben können, Simon!«
    »Meinst du wirklich? Mir kommt es nicht sehr originell vor, allenfalls wie Bruckner aus zweiter Hand. Moderne Komponisten haben es nicht leicht. Wie viele fallen dir spontan ein, außer Gershwin, Vaughan Williams, Britten und Howard Hansen? Hunderte anderer sind in der Versenkung verschwunden. Die Kritiker haben ihnen den Garaus gemacht! Ein Künstler kann nur überleben, wenn er seine eigenen Werke brillant zum Vortrag bringt.«
    »Aber selbst das reicht manchmal nicht«, widersprach Leslie zaghaft. »An Paderewskij erinnern sich höchstens noch andere Pianisten. Auf der anderen Seite wäre Rachmaninow auch dann berühmt geworden, hätte er seine Kompositionen nicht selbst gespielt.«
    Simon stand vom Flügel auf und zog seinen schwarzen Handschuh an. Seine Miene war jetzt wieder ausdruckslos. Emily umarmte ihn.
    »Ich hab’ Frodo gesagt, wenn du ein Schwarzer Magier bist, sollte er sich ernsthaft überlegen, die Schwarze Kunst zu studieren, weil du der beste Mensch bist, dem ich je begegnet bin!«
    Simon strich dem Mädchen übers Haar. »Ich bin gerührt, Liebes. Aber wenn du mit diesem jungen Mann gebrochen hast, wirst du vielleicht mehr Zeit für das Cembalo haben und dich der Aufgabe widmen können, den speziellen Anschlag zu üben. Du behandelst ein Cembalo immer noch wie ein Klavier. Der klanglichen Einschränkungen des Cembalos wegen hat Mozart für das Pianoforte komponiert, aber er hat auch viel für das Cembalo geschrieben, trotz all seiner Mängel und Eigentümlichkeiten. Du darfst ein Cembalo nicht spielen, als würdest du nach dem Fortepedal suchen! In dieser Phase deines Lebens, mein Schatz, hast du keinen Platz für eine Liebesaffäre, außer vielleicht mit Johann Sebastian Bach.«
    Emily lächelte, und es war, als würde sich hinter dunklen Wolken endlich wieder die Sonne zeigen. »Im Moment ist Bach der einzige Mann in meinem Leben. Aber darf ich ihn manchmal mit Händel und Rameau betrügen?«
    »Natürlich, Kind. Dies ist die einzige Art von Promiskuität, die niemandes Tugend in Gefahr bringt«, erklärte Simon munter. »Aber jetzt ist nicht die rechte Zeit für eine Unterrichtsstunde. Laßt uns in die Küche gehen, ein paar Kartoffeln schälen und sie mit Käse überbacken oder was wir sonst an Beilagen auftreiben können. Und dann bereite ich für euch ein paar meiner exzellenten Erdbeer-Crepes zu.«
    »Wunderbar«, rief Emily. »Ich bin am Verhungern.«
    Leslie hatte bereits gelernt, daß Kochen Simon stets in gute Laune versetzte. Bald stieg aus dem Ofen der Duft nach gebackenem Kürbis und Pommes Anna auf, und während Emily nach Simons Anweisungen einen Crepe-Teig schlug, zog der Musiker seinen Handschuh aus, um die Feinarbeit zu erledigen: die Erdbeeren zu putzen und in Scheiben zu schneiden. Leslie bemerkte, daß die beiden schwächeren äußeren Finger Simons sich gegen die Handfläche krümmten, obwohl er sie mühsam streckte, damit er sie beim Schneiden der Früchte benutzen konnte. Die Finger zitterten, und Leslie fragte sich, ob Simon sie beim Spielen

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