Die Hüter der Schatten
vielleicht überanstrengt hatte. Dann fiel ihr auf, daß sie seine Hand anstarrte, und sie wandte den Blick ab.
»Verdammtes elendes Ding, fahr doch auf ewig zur Hölle!« Simon schleuderte das Messer quer durch die Küche. Seine Augen flammten vor Zorn, als er die Schüssel mit den Erdbeeren nahm und mit aller Kraft zu Boden warf. Sie zersprang in tausend Stücke, und die Glasscherben vermischten sich mit den blutroten Früchten und deren Saft. Leslie starrte ihn offenen Mundes an. Nach dem Knall trat ein Augenblick tiefster Stille ein. Mit geballten Fäusten beugte sich Simon über die Reste der Schale. In diesem Moment erinnerte Leslie sich an ein zerschmettertes Garagenfenster und eine andere Gelegenheit, bei der eine Schüssel durch die Küche geflogen war. Damals war sie nicht zerbrochen, da sie aus Edelstahl bestand.
»Hm, das sieht ja aus wie Blut«, versetzte Emily leichthin. »Was war los, Simon?«
Angespannt und gequält tat er einen langen Atemzug.
»Meine Hand …«, murmelte er. »Sie wollte mir nicht … dienen.« Wie benommen blickte er sich um. »Ich habe unser schönes Abendessen ruiniert«, sagte er dann. »Kommt, laßt uns diese Schweinerei aufwischen, und dann führe ich euch zum Essen aus.«
»Nicht doch«, widersprach Leslie. »Wir finden schon etwas anderes zum Nachtisch. Ich glaube, ich habe noch Eis …«
»Unmöglich«, erwiderte Simon zerknirscht. »Ich habe alles ruiniert. Und ich habe euch erschreckt. Deshalb schulde ich euch die Einladung. Geht nach oben, und zieht euch etwas Festliches an. War Emily schon mal im Top of the Mark?«
Als Simon die Schwestern an diesem Abend vor ihrer Haustür absetzte, teilte er ihnen mit, er werde ein paar Tage auf Reisen gehen. »Mein Agent möchte mich für weitere Vorlesungen und Meisterklassen verpflichten. Ich muß ihn dazu bringen, statt dessen eine gewisse Zeitspanne für mein Comeback-Konzert freizuhalten – vielleicht den kommenden Sommer. Außerdem hat man mir eine Festanstellung an einem College an der Ostküste angeboten, und ich muß mir überlegen, wie ich das Angebot taktvoll ablehnen kann. Zum Glück bin ich finanziell unabhängig und habe es nicht nötig, mich zu einer Entscheidung drängen zu lassen, um nicht am Hungertuch zu nagen.«
Aber er kann sich nicht auf seine Hand verlassen. Ob er wirklich wieder spielen kann? Leslie schalt sich innerlich wegen ihrer Zweifel. Wenn Gedanken tatsächlich Einfluß auf Ereignisse in der gegenständlichen Welt ausübten, durfte sie nicht zweifeln. »Wie lange wirst du fortbleiben?« Sie fragte sich, ob sie so wehleidig geklungen hatte wie eine verlassene Frau.
»Nicht länger als unbedingt nötig, Liebste. Jetzt habe ich schließlich einen Grund, nach San Francisco zurückzukehren«, antwortete er und küßte sie.
An diesem Abend saß Leslie lange in ihrem Arbeitszimmer und genoß die Ruhe und den Frieden. Sie bezweifelte nicht, daß Simon das Haus von allen feindseligen Präsenzen gereinigt hatte. Trotzdem kam es ihr vor – obwohl Emily schon zu Bett gegangen war –, als würde sie einen leisen Hauch von Musik aus dem Zimmer auf der anderen Seite des Flurs vernehmen. Vielleicht hörte sie nicht mit ihren körperlichen Sinnen.
Simon wollte Alison nicht von hier vertreiben. Das Haus und der Garten haben ihr gehört, ehe ich herkam, und der Gedanke, daß Alison hier ist, gefällt mir. Vielleicht sogar, um mir Rat zu erteilen.
Es überraschte sie nicht im geringsten, das Buch über Reinkarnation, das von einer ebenso bekannten wie umstrittenen Psychiaterin verfaßt und mit einem Vorwort von Alison Margrave versehen war, auf ihrem Schreibtisch zu finden. Leslie konnte sich nicht erinnern, das Buch dort hingelegt zu haben. Vielleicht war es Simon gewesen, der sie daran erinnern wollte, den Band zu lesen, oder eine weniger greifbare Macht. Es spielte keine Rolle. Leslie las lange in dem Buch, und als sie es zuschlug, legte sie sich im Sessel zurück. Sie war beeindruckt von den Beweisen, die ihr vor Augen geführt worden waren.
Die Professoren, bei denen sie studiert hatte, hätten das niemals akzeptiert. Unmöglich. Sie hätten weder Juanita Garcías Leiche im Abwasserkanal noch Phyllis Anne Chapmans Geburtstagskuchen als schlüssige Beweise betrachtet. Aber Leslie hatte beides erlebt – und sie lebte nicht länger in dieser rationalen Welt. Sie wußte jetzt, warum das Schicksal sie zu diesem Haus geführt hatte. Der Grund war ihre Frustration gewesen und ihr Gefühl, daß sie
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