Die Hüter der Schatten
beruflich in einer Sackgasse steckte und wenig ausrichten konnte, und das nur bei Menschen mit den harmlosesten Problemen.
Hier, genau in diesem Sessel, war Leslie eingefallen – ohne jedes Hintergrundwissen oder einschlägige Ausbildung –, aus dem Blauen heraus zu fragen, ob vielleicht ein Zweck dahintersteckte, daß Chrissy Hamilton als Tochter ihrer Mutter geboren worden war. Nun wandte sie diese Kriterien auf ihre Patienten an, einen nach dem anderen. Auf Leonard Hay zum Beispiel, der sich nicht entscheiden konnte, ob er sich als Homosexueller outen oder bei seiner Frau bleiben sollte. Vielleicht hatte Leonard viele frühere Leben als Frau verbracht und sich noch nicht an die Anforderungen gewöhnt, die von der Gesellschaft an Männer gestellt wurden.
Oder war das eine sexistische Anmaßung, und die Wahrheit lag ganz woanders? Möglicherweise rebellierten Männer wie Leonard gegen sexuelle Stereotypen und litten auf diese Weise, damit die Gesellschaft mehr Toleranz gegenüber individuellen Lebensentscheidungen aufbrachte.
Und Judy Attenbury? Wenn wir unser Schicksal selbst wählen, warum sollte das Mädchen in einen Körper hineingeboren werden, der nicht zur Ballerina geschaffen war, und dennoch leidenschaftlich nach einer Tanzkarriere streben? Vielleicht hatte Judy ja auf bittere Weise lernen müssen, ihre Wünsche herunterzuschrauben und dem anzupassen, was realistisch für sie war. Und der Konflikt mit ihrer Mutter, Judys Magersucht? Hatte das Mädchen sich ein Leben ausgesucht, das sie zwingen würde, sich ihre Unabhängigkeit zu erkämpfen und eigene Wertmaßstäbe zu entwickeln? Oder hatte sie unter dem Druck dieses Lebens einfach ihre wahren Ziele aus den Augen verloren? Vage begann Leslie zu erahnen, daß die therapeutische Arbeit auch ganz anderen Zwecken dienen konnte. Möglicherweise mußte sie ihren Patienten weniger dabei helfen, sich an die Gesellschaft und ihr Umfeld anzupassen, sondern sie statt dessen dabei unterstützen, das Hauptziel ihres Lebens zu erkennen und herauszufinden, was sie unternehmen konnten, um dieses Ziel zu erreichen und nicht länger durch die Finsternis ihres Lebens zu stolpern. »Karma« war dafür ein ebenso guter Begriff wie jeder andere.
Wenn sie sich sofort und radikal umorientierte, vermutete Leslie, würde man sie aus dem Berufsverband ausschließen. Selbst der liberale Staat Kalifornien ließ keine Therapeuten zu, die ihren Patienten halfen, ihr wahres Karma oder den Zweck ihrer derzeitigen Inkarnation zu erkunden. Aber es war eine neue Idee, ein Anfang. Zumindest hatte sie wieder eine Perspektive. Leslie legte das Buch beiseite und ging zu Bett.
In ihrem Schlafzimmer war immer noch ein Hauch von Weihrauch- und Kräuterduft wahrzunehmen. Leslie öffnete das Fenster, und der Nebel waberte ins Zimmer. Auf dem Dachboden des elterlichen Hauses in Sacramento hatte Leslie unter den dort abgestellten Möbelstücken einmal ein kleines hölzernes Beistelltischchen entdeckt, das vielleicht ihrer Großmutter gehört hatte. Dieses Tischchen richtete sie nun als improvisierten Altar ein. Sie setzte eine kleine Kerze in einen roten Halter und zündete Weihrauch an. Schon vor ein paar Stunden hatte sie eine mit Wasser gefüllte runde Muschelschale auf den Tisch gelegt, dazu eine Kristall-Geode, die ihr Vater einmal von einer geologischen Expedition mitgebracht hatte. Dann legte sie sich im Dunkeln nieder, unter dem flackernden Feuerauge der Kerze, und dachte an Simon. Sie war sicher, daß die beruhigende Wirkung des Rituals rein psychologischer Natur war, aber ihr gefiel sie. Menschen pflegten viele private Rituale. Warum sollte man nicht um der positiven Wirkung willen mit Absicht eines schaffen?
Falls Leslies Theorie stimmte – beziehungsweise Alisons Hypothese, die wiederum auf dem Ansatz des bekannten Psychotherapeuten beruhte –, welches Ziel war dann Simons Schicksal bestimmt? Und warum war er gerade jetzt in ihr Leben getreten? Und noch wichtiger, was war der Zweck des Unfalls, der ihn ein Auge und eine Hand gekostet hatte?
Eine mögliche Erklärung stammte von Colin MacLaren, nämlich daß es Simons wahre Bestimmung sei, als Dirigent und Lehrer zu wirken. Und Leslie hatte heute abend eines seiner eigenen Stücke gehört. Wenn ein Dirigent eine ganze Generation prägen konnte, traf das auf einen Komponisten um so mehr zu. Die Musik von Bach, die Emily spielte, hatte dreihundert Jahre überdauert.
Doch Simon besaß reiche Erfahrung in diesen Dingen; wenn er
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