Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
Vom Netzwerk:
Colins Erklärungsversuch zurückwies, mußte er einen guten Grund dafür haben. Leslie selbst hatte ihn sagen hören: Wir leben im Grunde nur durch das Publikum. Auch Emily spürte dieses Verlangen. Einfache Erklärungen gab es nicht einmal in der konventionellen Psychologie. Wie konnte Leslie dann erwarten, diese neue Ordnung der Dinge könne ihr welche liefern?
    Später, im Rückblick, erschienen Leslie die ersten Tage nach Simons Abreise als eine friedliche Zeit. Nichts wies auf den entsetzlichen Alptraum hin, der kurz darauf in ihr Leben einbrechen sollte.
     
    Am Morgen, nachdem Simon sich verabschiedet hatte, klingelte das Telefon. Als Leslie den Hörer abnahm, hörte sie eine ihr unbekannte weibliche Stimme.
    »Dr. Barnes? Sie haben Dr. Margraves Praxis übernommen, wurde mir gesagt …«
    »Tut mir leid«, sagte Leslie, aber die Fremde ließ sich nicht unterbrechen. »Man hat mir gesagt, daß Sie jetzt in dem Haus wohnen. Wissen Sie, ich bin mit meinem Latein am Ende, und ich weiß nicht, wer mir sonst helfen könnte. Ich … ich stehe kurz davor, aus dem Fenster zu springen … Ich halte das einfach nicht mehr aus …«
    Leslie hatte bei der Telefonseelsorge gelernt, jede Selbstmorddrohung ernst zu nehmen.
    »Erzählen Sie mir davon«, forderte sie die Anruferin auf.
    Eigentlich hatte sie keine Zeit für so etwas. Wahrscheinlich würde sie nun eine Stunde am Telefon verbringen und eine verzweifelte Frau zu beruhigen versuchen, die nicht einmal ihre Patientin war. Nun ja, in letzter Zeit hatte sie ohnehin überlegt, ob sie nicht zusätzlich ehrenamtlich arbeiten sollte.
    »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll – das alles ist so schrecklich«, sagte die Frau mit zitternder Stimme. »Man hat mir erzählt, Dr. Margrave würde mich bestimmt nicht auslachen, aber dann hörte ich, sie sei gestorben, also habe ich versucht, es weiter auszuhalten. Aber er … er hat meine Kinder aus dem Haus vertrieben. Ich sitze hier ganz allein und … ich halte es einfach nicht aus … Und ich kann niemandem davon erzählen. Einmal habe ich bei der Seelsorge angerufen, aber dort hieß es nur, ich soll mich zusammennehmen …«
    Dieser Ausdruck, dachte Leslie, sollte aus dem Wortschatz gestrichen werden, zusammen mit seinem Zwillingsbruder: sich am Riemen reißen. Die Menschen suchten Hilfe, weil sie genau das allein nicht mehr schafften.
    »Ich kann nicht mehr schlafen, und die ganze Zeit höre ich, wie er mich auslacht …«
    Aha, sie wurde also von ihrem Ehemann drangsaliert, der sogar ihre Kinder aus dem Haus vertrieben hatte. Die Frau redete noch eine Zeitlang weiter und verstummte schließlich.
    »Ich nehme an, daß Sie ihn schon gebeten haben zu gehen?«
    »Hätte ich jedesmal zehn Cent bekommen, wenn ich ihn hinausgeworfen habe, wäre ich eine reiche Frau …« Ihre Stimme klang matt und hoffnungslos. »Ich glaube, er will mich in den Wahnsinn treiben.«
    Verfolgungswahn? Oder wirklich ein Mann, der seine Frau beschimpfte oder sogar prügelte? Leslie wußte, wie häufig so etwas vorkam.
    »Schlägt er Sie?« fragte sie vorsichtig.
    »Jetzt nicht mehr. Aber ich weiß, daß er es gern tun würde. Früher hat er mich ständig verprügelt, sogar vor den Kindern … Ich habe versucht, ihm zu entkommen, bin sogar ausgezogen. Er hat gesagt, er würde niemals erlauben, daß ich ihn verlasse.«
    »Sie wissen natürlich, daß kein Gesetz des Staates Kalifornien ihm gestattet, Sie auch nur anzurühren. Haben Sie ihn bei der Polizei angezeigt?«
    »Ich wußte, Sie würden mich nicht verstehen«, jammerte die Frau. »Und dabei war ich mir so sicher. Die Polizei kann mir nicht helfen.« Leslie hörte, wie sie schluchzte. »Pete ist seit fünf Jahren tot!« stieß die Fremde hervor.
    »Ich verstehe«, sagte Leslie. »Und ich lache Sie durchaus nicht aus.« Wie irrational der Patient dem Therapeuten auch vorkommen mochte, wichtig war, ihn zum Weiterreden zu bringen. Sie hatte es offenbar mit einer verwirrten Persönlichkeit zu tun, die bis auf ihre Besessenheit in allen anderen Belangen gesund war. Verfolgt von ihrem toten Ehemann!
    Aber Alison Margrave hatte als Parapsychologin gearbeitet. War sie eine von diesen Quacksalberinnen gewesen, die leichtgläubige Menschen ausplündern und die geistig Verwirrten in ihrem Wahn bestärken? Aus der Lektüre von Alisons Buch und den Erzählungen von Menschen, die sie gekannt hatten, hatte Leslie einen ganz anderen Eindruck gewonnen. Außerdem hätte ein hochintelligenter Mann wie Simon sich

Weitere Kostenlose Bücher