Die Hüter der Schatten
schon einmal ein tragisches Ereignis erlebt hat, war ihre erste Reaktion Furcht. Emily war mit Simon unterwegs – ob ihr etwas zugestoßen war?
Der stämmige Polizist kam näher. Neben ihm ging eine junge Beamtin in einem khakifarbenen Hosenanzug.
»Ich kannte dieses Haus früher ganz gut«, sagte er, »und wollte nur mal nachschauen, ob hier wieder jemand wohnt. Sie sind die Freundin von Detective Beckenham, stimmt’s? Mein Name ist Joe Schafardi.«
Automatisch fuhr Leslie ein wenig zurück, obwohl sie geglaubt hatte, sich damit abgefunden zu haben. »Ich kenne ihn, ja.«
Die junge Frau schaute sich im Garten um. »Das ist einer der schönsten Gärten in der ganzen Stadt. Gut zu sehen, daß hier jemand wohnt, der sich darum kümmert«, meinte sie. »Ungefähr einen Monat hat hier mal eine Frau gewohnt, aber ich glaube nicht, daß sie auch nur einmal in den Garten gegangen ist. Eigentlich habe ich hier angehalten, weil ich fragen wollte, ob ich mir eine Zitrone pflücken darf. Dr. Margrave hat mir immer Zitronen geschenkt, und im Vorbeifahren fiel mir ein, daß am Baum bestimmt welche hängen, die nur schlecht würden, wenn niemand hier wohnte. Aber natürlich wohnen Sie jetzt hier …«
»Bitte, bedienen Sie sich.« Leslie wies auf die schwer mit Früchten beladenen Äste des Baumes. Sie hatten mehr frische Zitronen, als Emily jemals zu Bio-Limonade verarbeiten konnte. Ihre Schwester und Simon hatten schon überlegt, Marmelade daraus zu kochen. »Nehmen Sie ruhig mehrere, wenn Sie möchten. Ich freue mich, wenn die Früchte nicht verderben.«
Die Polizistin ging zu dem Baum, wählte sorgfältig drei leuchtend gelbe Zitronen aus und kam damit zurück zum Tor.
Währenddessen wandte Schafardi sich an Leslie. »Dr. Margrave war eine nette alte Dame. Merkwürdig, daß gerade Sie hier eingezogen sind – sie hat nämlich auch manchmal mit unserer Abteilung zusammengearbeitet. Vielleicht hat Sergeant Beckenham Ihnen ja davon erzählt. Wie es so schön heißt, es gibt nichts, was es nicht gibt. Mrs. Margrave hat uns gesagt, wer damals der Zebra-Mörder war, nur kamen wir leider aus politischen Gründen nicht an die Leute heran. Ich selbst würde mich ja nie ausschließlich auf Hellseherei verlassen, aber wie ich hörte, hat die Polizei von Berkeley sich an Dr. Margrave gewandt, als Patty Hearst entführt wurde …«
»Gibt es einen bestimmten Grund für Ihren Besuch?« Leslie wußte, daß sie unfreundlich klang.
»Nun ja, eigentlich schon«, antwortete die junge Polizistin. »Eine Vermißtenanzeige. Wir haben die Routineprozeduren durchgespielt, aber wir wissen einfach nicht, wo wir anfangen sollen.«
Leslie erkannte, daß einer ihrer Alpträume Gestalt annahm. Jetzt würden die beiden Beamten sie nach einer drogensüchtigen Prostituierten fragen, und sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie ihnen antworten sollte … Aber nein, der Polizist berichtete ihr von einem jungen Mann, der am San Francisco State College studierte. Kurz vor der Abschlußprüfung war er spurlos aus seinem Apartment verschwunden und hatte weder eine Nachricht noch irgendeinen Hinweis zurückgelassen – dabei war er ein guter Student, so daß Examensängste nicht der Grund gewesen sein konnten. Auch sein Motorrad hatte er stehenlassen.
Langsam stieß Leslie den Atem aus. »Ich werde tun, was ich kann. Natürlich kann ich Ihnen nichts versprechen.«
»Wollen Sie das Apartment des jungen Mannes sehen? Die Besitzerin möchte es weitervermieten, aber ich habe sie gebeten, noch eine Woche zu warten, damit sich noch jemand die Wohnung anschauen kann. Wenn wir nur eine Ahnung hätten, ob wir nach einem Mordopfer suchen oder jemandem, der sich davongemacht hat …«
Leslie versprach zu kommen und zu sehen, was sie herausfinden könne. Während die Polizisten sich bedankten, sah sie, daß Simons Auto hinter dem Streifenwagen gehalten hatte. Er war ausgestiegen und hielt Emily die Beifahrertür auf. Als er dort stand und wartete, erhaschte Leslie einen Blick auf sein Gesicht.
Er wandelt ebenfalls auf einem schmalen Grat, so wie ich, durchzuckte es sie, ohne daß sie hätte sagen können, was sie damit meinte. Dann war der Augenblick vorüber, und Simon schritt lässig auf das Tor zu, wo Leslie mit den Polizisten stand.
»Ah, da ist ja Dr. Anstey«, rief Schafardi aus. »Wir haben uns kennengelernt, als Miss Margrave … verschieden ist«, schloß er mit einem Hüsteln. »Ich habe Sie damals mit einem Kollegen im Krankenhaus aufgesucht. Wie
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