Die Hüter der Schatten
Kriminellen rationalisierten; Männern, die jede mögliche Straftat bis hin zu Mord begangen hatten; Männern, die lebenslang in St. Quentin einsaßen. Selbst solch wertlosen Kerlen hielten diese Frauen die Treue. Natürlich konnte Leslie sich immer sagen, Simon sei anders. Aber sie hatte diese Frauen stets verurteilt und das Gefühl gehabt, ihr Mangel an Selbstwertgefühl habe sie davon überzeugt, daß sie nichts Besseres verdienten als diese Kriminellen. Und nun gehörte sie selbst zu ihnen. Oder doch nicht? Entweder war Simon ein Wahnsinniger, ein unglaublicher Lügner, oder er hatte mindestens einen kaltblütigen Mord begangen.
Leslie studierte Alisons Buch über Reinkarnation. Waren Simon und sie vielleicht über mehr als ein Leben aneinander gebunden? Wie hätte sie sonst ihre Reaktion erklären können? Sie wünschte, Simon hätte niemals gesprochen und sie besäße noch Emilys Unschuld. Leslie fühlte sich wie Blaubarts Frau, welche die verbotene Tür geöffnet hatte und nun auf ewig mit der Antwort auf ihre schicksalhafte Frage leben mußte.
Am Morgen des Tages, an dem Nick Beckenham, Joels Bruder, heiratete, riß Leslie die oberste Seite ihres Schreibtischkalenders ab und sah ihre entsprechende Notiz. Hatte sie wirklich jemals geglaubt, Joel zu lieben und das, was sie verband, für befriedigenden Sex gehalten? Was das anging, hatte sie inzwischen eine völlig neue Wahrnehmungsebene erreicht. Sie hätte ebensogut als Jungfrau zu Simon kommen können.
Da Leslie nicht mehr an Zufälle glaubte, war sie nicht erstaunt, als Emily sie in diesem Moment ans Telefon rief. Ihre Schwester aß gerade eine Scheibe Cheddarkäse mit Knäckebrot – eine kulinarische Neuerung, die Simon eingeführt hatte. »Da ist der nette Polizist, den du in Sacramento kennengelernt hast«, erklärte Emily mit vollem Mund.
»Leslie?« Nicks Stimme klang genau wie immer. »Joel sagt, daß du nicht zu unserer Hochzeit kommst. Ist wirklich traurig. Ich hätte mich so gefreut, dich zur Schwägerin zu haben, weißt du.«
»Oh, Nick, tut mir leid.« Schüchtern verlieh sie ihrer Überzeugung Ausdruck, zu der sie gelangt war, seit sie in diesem Haus wohnte: »In gewissem Sinne bist du mein Bruder, und nichts wird jemals etwas daran ändern. Wir werden immer Freunde bleiben.« Vielleicht für mehr als ein Leben. Was außer dem Gedanken der Wiedergeburt erklärte sonst Dinge wie Emilys Begabung oder die berühmte Liebe auf den ersten Blick?
»Ganz bestimmt«, gab Nick zurück. »Als ich zur Polizeischule ging, hatte ich einen Ausbilder, der zu sagen pflegte: ›Mit seiner Familie ist man von Gott geschlagen, aber zum Glück läßt er einen wenigstens seine Freunde aussuchen. ‹ Aber ich hätte mich trotzdem gefreut, dich zu sehen.«
»Wenn ihr beide, du und Margot, das nächste Mal nach San Francisco kommt, könnt ihr bei uns wohnen«, bot Leslie an.
»Danke, Les, vielleicht nehmen wir dich beim Wort. Hör mal, ich hab’ da einen Freund bei der Polizei in Frisco.« Wie alle Amerikaner – von den Einwohnern San Franciscos selbst abgesehen – bestand Nick hartnäckig darauf, die Stadt Frisco zu nennen. »Er hat sich nach dir erkundigt, und ich habe ihm deine Telefonnummer gegeben. War das okay?«
Es war nicht okay. Leslie konnte sich immer noch nicht mit ihrer hellseherischen Gabe anfreunden, doch inzwischen wußte sie, daß sie sich nicht weigern durfte. »Ich werde auf seinen Anruf warten«, meinte sie resigniert.
»Ich wäre dir wirklich dankbar, Les. Tja, ich muß jetzt los.« Leslie war tief gerührt, daß Nick an seinem großen Tag den Wunsch gehabt hatte, sie anzurufen. Mehr als alle Worte bestätigte ihr dies, daß er es ebenso wie sie spürte, diese besondere Verbundenheit zwischen ihnen beiden.
»Grüß Margot ganz herzlich von mir, Nick. Ich wünsche euch beiden alles Glück. Und ich wünschte wirklich, ich könnte bei euch sein.«
Wenn es stimmte, daß Gedanken Gestalt und Substanz besaßen, würde ein Teil von ihr dort sein und zuschauen, wie Nick und ihre Freundin getraut wurden.
Am Nachmittag erteilte Simon eine Meisterklasse; er hatte Leslie dazu eingeladen, doch sie erwartete zwei Patienten, denen sie nicht absagen konnte, und mußte ablehnen. Statt dessen nahm Simon Emily mit. Kürzlich hatte Leslie zum erstenmal ihren Namen in einer Klatschkolumne gelesen; nicht, daß es ihr etwas ausgemacht hätte. Ein berühmter Musiker von piratenhafter Eleganz – Leslie nahm an, daß der Autor sich auf Simons Augenklappe
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