Die Hüter der Schatten
geht’s der Hand? Wie ich sehe, können Sie bereits auf eine Schlinge verzichten.« Er wandte sich an seine Kollegin. »Pat, darf ich dir Dr. Simon Anstey vorstellen? Dr. Anstey – Officer Patricia Ballantine.«
»Oh, ich habe einen Ihrer Filme gesehen, Mr. Anstey …«, rief die junge Frau aufgeregt, und Leslie spürte beinahe körperlich, wie sie rasch den Blick von Simons schwarzem Handschuh wandte und wie dies an Simons Nerven zerrte.
»Tja, dann bis heute abend auf dem Revier«, verabschiedete sich Schafardi. »Soll ich Ihnen einen Streifenwagen schicken, Dr. Barnes?«
»Nein«, antwortete Leslie. »Ich komme mit dem eigenen Auto. Ich hoffe sehr, daß ich den jungen Mann finden kann und daß er noch lebt. Aber Sie wissen natürlich selbst am besten, daß ich Ihnen nichts versprechen kann.« Die beiden Cops dankten ihr noch einmal und gingen davon, die Hände voller Zitronen. Leslie sah dem davonfahrenden Streifenwagen nach und verzog das Gesicht.
»Anscheinend habe ich eine neue Laufbahn eingeschlagen, ob ich will oder nicht.«
»Warum empfängst du diese Leute?« wollte Emily wissen.
Leslie seufzte. »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich, weil sie mir leid tun.« Aber sie wußte, daß dies nicht die ganze Antwort war. »Was hat noch ein Bergsteiger auf die Frage geantwortet, warum er den Mount Everest besteigen will? Weil er da ist.«
In letzter Zeit hatten viele Dinge Leslie überrascht, darunter die Ruhe, mit der sie sich inzwischen mit diesem Teil ihres Lebens abfand. Alles gleicht sich aus, dachte sie. Simon und Emily hatten der Welt ihre Musik zu geben. Sie selbst besaß nur ihre bescheidene Fähigkeit, sich um Menschen mit Problemen zu kümmern, und das war eine zu geringe Gegenleistung für alles, was ihr im Leben zuteil geworden war. Also mußte sie auch ihre andere Gabe einsetzen.
»Wir sollten die Zitronen pflücken, es sind schon sehr viele reif«, sagte Emily. »Ich möchte Marmelade daraus kochen. Ob das wohl auch klappt, wenn wir Honig statt Zucker nehmen, Simon?«
»Wenn wir als Geliermittel Pektin verwenden, schon«, meinte Simon. Emily eilte zum Zitronenbaum, wobei sie zurückrief: »Holst du die Leiter aus der Garage?«
»Nein«, erwiderte Simon, und Emily lachte. »Faulpelz!«
»Ich kann meiner Hand die Belastung nicht zumuten«, versetzte Simon grimmig. »An der Handkante habe ich kein Gefühl. Ich würde es nicht einmal merken, wenn ich mich verletzte.«
»Entschuldige bitte, Simon«, rief Emily. »Natürlich hole ich die Leiter …«
Sie rannte davon, und Simon lächelte Leslie angespannt zu. »Sollen wir in meine Wohnung fahren und dort die Nacht verbringen? Wann bist du denn mit dieser lästigen Sache auf dem Revier fertig?«
»Ich habe keine Ahnung, Liebster. Die Polizei möchte, daß ich mir eine Wohnung anschaue und das Verschwinden eines jungen Mannes überprüfe.«
Simon zuckte die Achseln. »Jedes Jahr verschwinden Hunderte junger Menschen. Der Großteil hat bloß die Anschrift geändert, ohne sich die Mühe zu machen, jemanden offiziell darüber zu unterrichten. Ich hoffe, daß nicht mehr an dieser Sache ist.«
Leslie erinnerte sich an Juanita Garcías Gesicht unter der Wasseroberfläche eines Abwasserkanals und betete ebenfalls darum. Wenn der junge Mann am Leben war, konnte sie ihn vergessen, und die Polizei ebenfalls. Schließlich beging man kein Verbrechen, indem man umzog, ohne seine Familie zu benachrichtigen. Als sie Sacramento verlassen hatte, war sie auch in die Versuchung geraten. Wäre Nick Beckenham nicht gewesen, wäre sie womöglich ebenfalls in die Vermißtenstatistik eingegangen. Aber nein, das hätte sie Emily niemals angetan. Ihren Eltern vielleicht, aber nicht ihrer Schwester.
»Wann sollst du dort sein? Haben wir noch Zeit, irgendwo zu Abend zu essen?«
»Ich habe noch einen Patienten, Simon«, sagte Leslie bedauernd. »Bis halb sieben. Anschließend muß ich gleich zur Polizei – ich hab’s versprochen.«
»Und ich kann keinen Anspruch auf deine Zeit geltend machen«, sagte Simon und tätschelte ihr sanft die Wange. »Darüber müssen wir mal reden.« Er sah, daß Emily mit der Leiter unter dem Arm zurückkehrte. »Du solltest Handschuhe tragen, mein Kind. Deine Hände sind zu kostbar. Lauf nach drinnen und zieh deine Gartenhandschuhe an.«
Gehorsam entfernte sich Emily, und Leslie fragte sich, ob sie sich Sorgen darüber machen sollte. Emily widersprach Simon nie, stellte keine seiner Aussagen in Frage. Und dabei war sie stets eine
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