Die Hüter der Schatten
Leslie kühl.
»Und ich werde es immer wieder sagen. Ich bin ein Dickschädel. Ich weiß, was ich will. Und früher oder später wirst du schon nachgeben.« Er beugte sich vor, um den letzten Rest Wein in ihr Glas zu gießen.
»Ich möchte nicht, Joel.« Sie schob seine Hand zurück und hielt den Flaschenhals fest, doch er lachte nur und schenkte ihr ein.
»Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, daß ich vielleicht besser als du selbst weiß, was du willst?« Verführerisch strichen seine Finger über die ihren und riefen erotische Erinnerungen wach. »Das viele Reden bringt uns nur in Schwierigkeiten, Les. Laß uns zu mir nach Hause fahren und unsere Probleme an dem einzigen Ort lösen, wo ein Mann und eine Frau sich wirklich verstehen …« Er drückte Leslies Hand. Warm strich sein Atem über ihr Gesicht, und trotz ihres Zorns spürte sie Begierde in sich aufsteigen.
Wenn ich jetzt mit ihm gehe, kann er mich zu allem überreden. Wie ein Blitz stand ihr das Bild vor Augen, wie sie sich liebten, und ein Schauer durchrieselte ihren Körper. Wie konnte sie das aufgeben? War das nicht wert, worum er sie bat?
Nein, das ist es nicht wert! Denn auf genau dieselbe Weise gerät die Hälfte meiner Patienten in jene Zwangslagen, von denen sie mir Tag für Tag erzählen. Sie lassen sich von ihren Gefühlen leiten, statt ihren Verstand zu benutzen.
Leslie versuchte sich freizumachen, doch Joel hielt ihr Handgelenk umklammert. In der anderen Hand hielt er immer noch das Weinglas. Schockiert beobachtete Leslie, wie das Glas sich plötzlich aus seinen Fingern löste und in die Höhe schoß. Der Inhalt klatschte in Joels Gesicht. Hustend und spuckend ließ er sie los und griff nach einer Serviette, um sich den Wein aus dem Gesicht zu wischen.
»Verdammt! Wie ist das denn passiert?« Er trocknete sich ab, rieb über seinen Hemdkragen und die durchnäßte Krawatte. Leslie rappelte sich auf. Sie konnte immer noch nicht glauben, was sie gesehen hatte.
»War das nötig, Leslie? Mein Gott, sind wir schon so weit, daß du dich mit Gewalt von mir losreißen mußt?«
Er hatte das Glas in der Hand, nicht ich. Meine Hand ist nicht einmal in die Nähe des Glases gekommen. Aber das wird er mir niemals glauben. Vielleicht habe ich es ihm tatsächlich irgendwie aus der Hand gerissen und umgekippt. Doch Leslies Zähne schlugen plötzlich aufeinander, und vor ihrem inneren Auge sah sie den Aschenbecher, der weit außerhalb von Eileens Reichweite gestanden hatte, aber trotzdem von allein auf das Mädchen zuflog und ihr eine blutende Wunde schlug.
Der Ober kam an den Tisch, trocknete Joel dienstbeflissen mit frischen Servietten ab und entschuldigte sich unablässig, obwohl Leslie keine Ahnung hatte, wofür. Joel stieß den jungen Mann unwirsch beiseite.
»Das war ein Versehen, Joel. Es tut mir leid«, sagte Leslie. Ihre Zähne schlugen immer noch hörbar aufeinander. »Das wollte ich nicht. Bitte, glaub mir.«
»Ich glaube, es ist wirklich am besten, ich fahre dich nach Hause«, sagte er und rang sich ein Lächeln ab. »Du siehst total erschöpft aus. Dieser Job mit all den Verrückten, und dann auch noch die Wohnungssuche … kein Wunder, daß du mit den Nerven runter bist. Und eigentlich sollte ich dir dankbar sein. Die Krawatte ist ein Geschenk meiner Tante. Ich hab’ sie immer schon gehaßt. Und das Hemd weiche ich in kaltem Salzwasser ein, dann bleiben keine Flecken.«
Als Leslie daran dachte, wie das Glas sich aus seiner Hand gelöst hatte, lief es ihr von neuem kalt über den Rücken. Joel suchte nach einer plausiblen Erklärung für das Geschehen, wie jeder andere es auch getan hätte. Aber es gab keine plausible Erklärung. Leslies Hand war nicht einmal in die Nähe des Weinglases gekommen. Sie hatte es nicht berührt … genausowenig wie den Aschenbecher.
Also war es gar nicht Eileen gewesen, die den Ascher durch die Luft hatte fliegen lassen. Leslie hatte das selbst bewirkt.
»Bring mich nach Hause, Joel. Ich … ich muß mir einen Virus oder so etwas eingefangen haben.«
Genau. Einen Poltergeist-Virus. Und was soll ich jetzt tun? Einen Gehirnklempner anrufen? Herrgott, ich bin selbst einer!
Sie ließ sich von Joel in den Wagen helfen, und er fuhr sie nach Hause.
Als um sieben Uhr der Wecker schrillte, stöhnte Leslie und barg den Kopf unter der Bettdecke. Sie hatte noch gehört, wie die Uhr drei schlug, und dann vier, und ihre Augen brannten, als hätte sie die ganze Nacht irgendwelche Akten studiert. Sie erinnerte
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