Die Hüter der Schatten
gestritten«, sagte Leslie und beförderte den Rest ihres Biotoasts in den Mülleimer. Doch Emily war bereits in die Diele gestürmt, griff nach ihrer Windjacke und kramte in ihrem Rucksack, um festzustellen, ob sie alle Bücher eingesteckt hatte.
»Um neun hab’ ich Musikgeschichte«, rief sie in die Küche zurück. »Dieser Schwachkopf von einem Dozenten verteufelt die Romantik. Als wäre Mahler eine ansteckende Krankheit oder so was und als hätte die Musikgeschichte schon vor Beethoven geendet. Drei Tage haben wir uns mit Scarlatti aufgehalten – Alessandro Scarlatti wohlgemerkt –, ehe wir uns Domenico Scarlatti zugewandt haben. Und dann sollten wir alle möglichen dämlichen Opern von Bononcini studieren, weil dieser Pauker behauptet, Händel sei nur aus politischen Gründen berühmter geworden als Bononcini. König Georg der Dritte sei schwul und hinter Händel her gewesen; deshalb hören wir heute keinen Bononcini an der Met. Und die Komponisten der Romantik wären allesamt tuberkulosekrank oder Syphilitiker gewesen. Stimmt das, Leslie?«
»Entschuldige, was hast du gesagt?«
»Haben die Komponisten des neunzehnten Jahrhunderts wirklich alle an Syphilis und Tuberkulose gelitten?«
»Nun ja, die Tuberkulose war damals ziemlich verbreitet«, erklärte Leslie und erinnerte sich vage an Kupferstiche aus dem vorigen Jahrhundert, auf denen bleiche junge Komponisten vor sich hin schmachteten. Emily war in die Küche zurückgekehrt und schenkte sich ein Glas Orangensaft ein.
»Sag mal, Les, wenn die Künstler alle krank waren, heißt das auch, daß ihre Musik kränklich sein muß? Oder morbide?«
Der Gedanke war irgendwie einleuchtend, aber Leslie konnte sich um alles in der Welt nicht vorstellen, weshalb das eine Rolle spielen sollte. »Ich würde sagen, das hängt von der Musik ab«, meinte sie schließlich. »Auch ein Mensch mit gesundem Körper kann alle möglichen krankhaften und makabren Dinge anstellen – ich denke da an diesen jungen Mann, der in ein Wohnheim eingedrungen ist und neun oder zehn Schwesternschülerinnen umgebracht hat. Körperlich scheint er ein Prachtexemplar gewesen zu sein, aber eben geistig verwirrt. Hätte er komponiert, wäre dabei bestimmt etwas wirklich Krankhaftes herausgekommen, trotz seines gesunden Körpers.«
»Da bin ich nicht so sicher«, entgegnete Emily. »Sieh dir Charles Manson an. Ich meine, der Mann war angeblich Musiker, und schau ihn dir jetzt an.«
»Schau du ihn dir an«, gab Leslie zurück. »Mir ist der Kerl ganz egal. Das ist deine Theorie, und ich will nicht darüber streiten. Gib mir auch ein Glas Orangensaft, ja?«
»Die Theorie stammt nicht von mir, sondern von Dr. Whittington. Wie ist der Mann bloß Musikprofessor geworden?« Den Saftkrug in der Hand, beugte Emily sich zu Leslie hinüber und wollte ihr einschenken. In dem Moment, als sie sich umdrehte, sauste ihr eigenes Glas ins Spülbecken und zersprang mit lautem Klirren. Leslie schrie auf und hielt ihr Saftglas fest.
»Verdammt!« Emily knallte den Krug auf den Tisch, und Leslie brachte ihn in Sicherheit, während ihre Schwester die Scherben aus der Spüle fischte. Wie zu erwarten hielt sie bald einen Finger in die Höhe, von dem Blut tropfte. Leslie mußte loslaufen und Heftpflaster suchen – zum Glück war es ein sauberer Schnitt. Zähneknirschend fluchte Emily vor sich hin. Leslie hatte nicht einmal geahnt, daß sie in ihrem zarten Alter solche Ausdrücke kannte. Dann stürmte sie aus der Tür und rief über die Schulter, sie müsse los, um ihren Bus nicht zu verpassen. Immer noch zitternd wickelte Leslie sich zur Vorsicht ein Geschirrtuch um die Hand und suchte nach den restlichen Scherben. Dabei redete sie sich ein, gesehen zu haben, wie Emily mit dem Ellbogen gegen das Glas gestoßen war. Trotzdem klapperten ihr die Zähne.
Als sie allein war, wurde Leslies Herzschlag allmählich wieder ruhiger. Sie trank ihren Kaffee aus (vier Tassen! schalt sie sich), rief dann den Auftragsdienst an und sagte sämtliche Termine für den heutigen Tag ab.
Wie kann ich etwas für meine Patienten tun, wenn ich selbst ein Poltergeist bin? Leslie wußte nur wenig über Poltergeister. Angeblich wurden entsprechende Phänomene in der Regel durch hysterische junge Mädchen an der Schwelle ihrer ersten Menstruation hervorgerufen. Aber das traf weder auf Emily noch auf Leslie zu.
Oder bin ich tatsächlich hysterisch? Habe ich auf diese Weise meiner angestauten Wut auf Joel Luft gemacht? Leslie fragte sich,
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