Die Hüter der Schatten
immer noch überrascht, daß Leslie keinen Versuch gemacht hatte, seine Entscheidung zu hinterfragen. Wahrscheinlich hatte sie als Therapeutin tatsächlich nie eine echte Chance gehabt, Leonards Vorbehalte auszuräumen und ihn zu überzeugen, daß sie nicht heimlich auf der Seite seiner Frau stand.
Kaum hatte sie Leonard verabschiedet, klingelte das Telefon. »Leslie?« meldete sich Susan Hamilton. Sie klang verängstigt. »Vielleicht sollte ich Sie nicht anrufen, aber ich dachte, es ist wenigstens eine Chance …«
»Was ist denn, Susan?«
»Chrissy ist verschwunden!«
»Verschwunden? Hat sie sich verlaufen, oder ist sie wieder ausgerissen?«
»Vielleicht. Oder … oder jemand hat sie entführt«, erklärte Susan mit zitternder Stimme. »Und das Schreckliche ist ja, daß Chrissy nicht spricht. Sie kann niemandem ihren Namen sagen, oder wo sie wohnt … Sie würde mit keinem Fremden gehen … glaube ich jedenfalls. Aber sie ist so klein! Jeder könnte sie einfach … einfach auf den Arm nehmen und davontragen …«
Jetzt schluchzte Susan haltlos.
»Beruhigen Sie sich, Susan«, sagte Leslie sanft. »Erzählen Sie mir, was passiert ist.«
»Chrissy war nicht im Schulbus. Ich warte immer vor dem Haus, um sie hereinzuholen, aber sie saß nicht im Bus. Daraufhin habe ich in der Schule angerufen. Die Lehrerin versicherte mir, sie habe Chrissy selbst in den Bus gesetzt. Aber der Fahrer ist neu … er kennt nicht alle Kinder. Deshalb konnte er sich nicht erinnern, wo Chrissy ausgestiegen war. Natürlich habe ich sofort die Polizei angerufen, aber ich muß immer daran denken, wie Chrissy das letzte Mal weggelaufen ist … ganz allein … bis zum Tilden Park. Diesen weiten Weg! Sie muß einen Bus genommen haben. Zu Fuß wäre sie nie dorthin gekommen. Das sind etliche Kilometer! Und wenn sie jetzt wieder in einen Bus gestiegen ist, kann sie überall sein.«
»Gut, daß sie bereits die Polizei verständigt haben« sagte Leslie und fügte hinzu: »Vielleicht ist sie wieder in einem Park, oder im Zoo. Vielleicht sogar in meinen Garten.«
»Das habe ich mir auch gedacht«, sagte Susan. »Sie ist schließlich dreimal bei Ihnen gewesen. Und ich weiß noch, daß sie gar nicht aus Ihrer Garage herauswollte. An dem Tag hat sie ›Kätzchen‹ gesagt, wissen Sie noch? Vielleicht hat sie sich irgendein Spiel ausgedacht. Würden Sie mir den Gefallen tun und nachsehen, ob sie dort ist, Leslie?«
»Wir … die Garage ist zur Zeit ständig abgeschlossen«, sagte Leslie. »Aber ich schaue mich im Garten um.«
»O Gott, was soll ich nur tun …«
»Christina geht es bestimmt gut, Susan. Vor allem wird die Kleine Sie brauchen, wenn die Polizei sie findet, also versuchen Sie, sich zu beruhigen. Ich sehe mich draußen um und rufe Sie dann zurück.«
Leslie trat in den Garten, obwohl sie wußte, daß es sinnlos war. Um allein hierher zu kommen, hätte Christina mit dem Bus fahren und zweimal umsteigen müssen – für das Mädchen eine unlösbare Aufgabe. Außerdem war sie das letzte Mal mit ihrer Mutter gekommen. Nach kurzer, ergebnisloser Suche ging Leslie ins Haus zurück und wählte Susan Hamiltons Nummer.
»Tut mir leid, aber im Garten ist sie nicht. Sollte sie noch auftauchen, rufe ich Sie sofort an und bringe das Kind zu Ihnen. Ich wünschte, ich könnte sonst noch etwas für Sie tun …«
»Das können Sie«, erwiderte Susan, »aber ich weiß nicht, ob Sie dazu bereit sind.«
»Wie meinen Sie das, Susan?«
»Ich habe den Artikel gelesen, der im Enquirer über Sie erschienen ist. Ich habe das nie erwähnt, weil ich mir denken konnte, daß Sie nicht darauf angesprochen werden möchten. Aber …« Ihre Stimme schwankte. »Chrissy ist noch so klein … und Sie haben damals das tote Mädchen gefunden … Wenn Sie mir nur sagen könnten, ob Christina am Leben ist …«
Susan verstummte, und Leslie stand schockiert vor dem Telefon. Doch sie hätte sich denken müssen, daß so etwas irgendwann einmal passieren mußte. »Susan«, sagte sie schließlich, »ich würde sogar das versuchen. Aber ich bin nicht sicher, ob es funktioniert. Ich kann nicht immer etwas sehen, besonders dann nicht, wenn ich persönlich betroffen bin. Und ich kenne Chrissy und Sie. Ich werde es versuchen, aber versprechen kann ich Ihnen nichts …«
»Ich weiß. Das weiß ich, Leslie. Es kommt mir auch verrückt vor, Sie darum zu bitten«, entgegnete Susan zittrig. »Aber … aber ich sehe Chrissy in einem Wasserspeicher treiben oder tot neben der Autobahn
Weitere Kostenlose Bücher