Die Hüter der Schatten
Seinsebene zu verharren und uns aus reiner Böswilligkeit so etwas anzutun.«
Leslie vermutete, daß er Alison durch ein Ritual aufhalten wollte, einen ähnlichen Bann, wie er ihn am Tag der Sonnenwende durchgeführt hatte. Doch sie hatte Angst, Simon danach zu fragen, denn inzwischen fürchtete sie seine magischen Kräfte.
Bevor sie ihn am nächsten Morgen verließ, reichte er ihr einen Schlüsselbund.
»Ich möchte, daß du ihn nimmst, Leslie«, sagte er. »Für den Fall, daß ich wieder fort muß. Ich habe dem Hausverwalter bereits mitgeteilt, daß du und Emily hier ein und ausgehen und die Wohnung als die eure betrachten dürft.« Sein Gesicht wirkte blaß und grimmig. »Wenn Alison es schafft, das Haus auch für dich unbewohnbar zu machen, könnte es sein, daß du hier Zuflucht suchen mußt.«
»Ich hoffe nur, daß es niemals so weit kommt, Simon. Wenn wir heiraten, wird das Haus auch dir gehören. Irgendwie müssen wir dafür sorgen, daß wir dort auch beide wohnen können.«
Während der nächsten Wochen zeigte sich weder im Büro noch im Musikzimmer eine feindselige Präsenz. Nur einmal lag Leslie spät abends allein im Bett – Simon hatte eine Verabredung, über die er nichts verlauten ließ –, als sie Licht im Atelier sah. Bei dem Anblick lief es ihr kalt über den Rücken. Aber sie hatte versprochen, Simon zu vertrauen, und sie würde sich daran halten. Sie drehte sich um und versuchte, wieder einzuschlafen.
Der Frühsommer ging in den Hochsommer über; die Augusthitze setzte ein, und der gewohnte Nebel blieb mehrere Tage hintereinander aus. Emily machte das Klima schwer zu schaffen, so daß sie schließlich Frodos Einladung angenommen hatte, bei seinen Eltern in Sausalito zu übernachten. Er brachte sie jeden Tag in die Stadt, wo sie mehrere Stunden an ihrem Flügel übte, und fuhr sie dann zurück in den kleinen Küstenort.
Drei von Leslies Patienten beendeten ihre Therapie, doch sie bemühte sich nicht, neue zu finden: Sie und Simon wollten kurz nach der Tagundnachtgleiche heiraten. Sie wollten das Haus den Herbst über leerstehen lassen, und Emily würde in Simons Wohnung ziehen – es wäre viel zu gefährlich gewesen, daß sie allein im Haus wohnte. Leslie zählte bereits die Wochen, bis es soweit war. Ihren anderen Patienten legte sie nahe, sich um neue Therapiemöglichkeiten zu bemühen.
Eines Nachmittags in der dritten Augustwoche kam Leonard Hay in Leslies Büro. Er wirkte blaß und ernst.
»Ich habe Ihnen etwas Wichtiges zu sagen, Leslie.«
»Ich höre«, entgegnete sie und dachte bei sich, daß der junge Mann entschlossener aussah, als sie ihn je erlebt hatte.
»Ich bin … ich meine, ich habe mir überlegt …« Er stammelte vor Nervosität. »Ich suche mir einen anderen Therapeuten«, brachte er schließlich mit einer ruckartigen Handbewegung hervor.
»Sind Sie nicht mehr zufrieden mit mir?«
»Doch«, erwiderte Leonard rasch. »Das hat andere Gründe.«
»Nun, ich bin froh, daß Sie diesen Schritt von sich aus unternommen haben«, sagte Leslie. »Ich hätte Sie ohnedies bald an jemand anderen verweisen müssen. Ich hatte nur auf eine Gelegenheit gewartet, darauf zu sprechen zu kommen. Haben Sie sich schon entschieden, zu wem Sie wechseln?«
»Ja. Zu einem Kollegen von Ihnen. Einem schwulen Therapeuten, der meine Homosexualität wirklich versteht. Eigentlich wollte ich Ihnen einen Brief schreiben, weil ich dachte …« Er schluckte. »Ich habe gefürchtet, Sie würden wütend auf mich sein.«
»Warum sollte ich?«
»Nun ja, ich war Ihr Patient, und es hätte Ihnen sicher nicht gefallen, wenn ich hinter Ihrem Rücken den Therapeuten gewechselt hätte«, antwortete Leonard und starrte finster zu Boden. »Aber wenn Sie mich sowie loswerden wollten …«
Leslie seufzte leise. Normalerweise galt es als unangemessen, daß ein Therapeut dem Patienten auch nur den geringsten Einblick in sein Privatleben gewährte, aber in diesem Fall entschied Leslie sich dafür. »Ich habe nicht vor, jemanden loszuwerden. Es ist nur so, daß ich heirate und mit meinem Mann mehrere Monate lang auf Reisen sein werde. Schon aus dem Grund ist es gut, daß Sie jemand anderen gefunden haben. Ist mir der Kollege bekannt?«
Leonard Hay nannte Leslie den Namen, und sie nickte. »Persönlich kenne ich ihn nicht, aber ich habe mir sagen lassen, er ist ein ausgezeichneter Therapeut«, erklärte sie, schüttelte Leonard die Hand und wünschte ihm alles Gute. Er wirkte erstaunt; offensichtlich war er
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