Die Hüter der Schatten
Antwort?
Emily kam zurück. Sie war bereits für den Unterricht angezogen. Unsicher griff sie nach ihrem Zitronengras-Tee und nippte daran. »Tut mir leid, daß ich dich angeschrien habe, Les. Alles in Ordnung mit dir?«
»Glaub’ schon. Entschuldige bitte, Em. Ich weiß, daß du nicht lügst.«
»Schon gut. Wenn ich einen Funken Verstand besäße, hätte ich diesmal gelogen. Ich hatte ja keine Ahnung, daß du dich so aufregst.«
Von neuem ergriff eine dumpfe Furcht Besitz von Leslie. Dieser ganze parapsychologische Quatsch. »Aber … aber was ist dann die Erklärung? Haben wir kleine grüne Männchen im Haus? Oder Kobolde?«
»Was ist eigentlich so verwunderlich an einem Buch auf dem Küchentisch? Vielleicht möchte es, daß du es liest.« Emily kramte im Kühlschrank herum, nahm sich einen Becher Hüttenkäse und einen Löffel und aß.
»Bücher können keine Wünsche äußern«, erklärte Leslie pikiert. »Und sie können sich ohne die Einwirkung einer äußeren Macht nicht bewegen.«
»Möge die Macht mit uns sein«, witzelte Emily mit vollem Mund. »Wenn sich irgend etwas von allein bewegt, dann doch wohl am ehesten ein Buch über Poltergeister, oder? Oder eine von uns wandelt im Schlaf. Das ist jedenfalls vernünftiger als anzunehmen, daß eine von uns beiden ein Poltergeist ist, ohne es zu wissen.« Sie warf den Becher in den Mülleimer und kritzelte ›Hüttenkäse‹ auf die Einkaufsliste, die am Kühlschrank hing. »Jetzt muß ich aber los, sonst komme ich zu spät. Du holst mich um halb zwei am Konservatorium ab, ja?« rief sie auf dem Weg nach draußen über die Schulter.
Leslie schenkte sich die zweite Tasse Kaffee ein und betrachtete den reißerisch aufgemachten Buchdeckel. Vielleicht wandelt ja wirklich eine von uns im Schlaf, dachte sie. Wenn, dann wahrscheinlich ich. Vor ihrem inneren Auge sah sie den Aschenbecher über den Schreibtisch segeln und Joel, dem der Rotwein in die Augen spritzte. Emily wußte weder von dem einen noch vom anderen Vorfall. Ihre Bemerkung war ein reiner Zufallstreffer gewesen.
Vielleicht will das Buch, daß du es liest …
Mit einem Küchentuch wischte Leslie den schlimmsten Schmutz vom Einband ab und starrte den Band argwöhnisch an. Ihr kurzer Ausflug in Fodors Geschreibsel hatte nichts als psychoanalytisches Gewäsch zutage gebracht. Mit einer Hand begann sie die fleckigen, eselsohrigen Seiten durchzublättern.
Das Poltergeist-Phänomen stellt für gewöhnlich ein Produkt chronisch angespannter Emotionen dar, die meist – wenn auch nicht immer – von einem Mädchen auf der Schwelle der Menses ausgehen. Weniger häufig treten Fälle auf, in denen ein geistig verwirrter Jugendlicher oder eine schwangere Frau den Ausgangspunkt bilden. Im Verein mit familiären Konflikten bringen die erwachenden sexuellen Gefühle eine Kraft hervor, die sich durch Pochen, Klopfen und ähnliche Geräusche äußert. Nicht selten zerspringen Objekte wie Glühlampen oder Geschirr, oder Gegenstände bewegen sich ohne sichtlichen Grund. Häufig liegt den Erscheinungen die Ambivalenz eines pubertären Mädchens zugrunde, das darauf bedacht ist, einen Erwachsenenstatus zu erlangen und die Schuld für kindliche Haßgefühle von sich zu weisen. So entsteht eine starke Spannung zwischen dem unbewußten Bedürfnis, sich wie ein Kind zu verhalten, und dem bewußten Wunsch nach dem Erwachsensein.
Poltergeist-Phänomene sind in der Regel von kurzer Dauer und vorübergehender Natur. Sollte das Phänomen jedoch zu erheblichen interfamiliären Spannungen führen, wird das junge Mädchen die Phänomene mit der Zeit dazu benutzen, Aufmerksamkeit zu erlangen, die sie auf andere Weise nicht bekommen kann. (Dies ist einer der Gründe dafür, daß Poltergeist-Phänomene zuerst bei hysterischen Hausmädchen oder Gouvernanten beobachtet wurden; Personen von niedrigem Status, deren emotionale Bedürfnisse ignoriert wurden.)
Gelegentlich jedoch äußert der Poltergeist sich massiver, indem er schwere Möbelstücke oder andere Gegenstände rückt. Durch die Luft fliegende Gegenstände können durchaus Verletzungen hervorrufen, und mancher Poltergeist verfällt sogar darauf, Feuer zu legen. Solche Entwicklungen sollten ernst genommen werden; die schwächeren Ausprägungen dagegen, bei denen Teller zerspringen oder kleinere Objekte bewegt werden, kann man getrost als nebensächlich betrachten. Solche Erscheinungen sollten weder ignoriert noch überbewertet, sondern als Symptom eines tiefer liegenden
Weitere Kostenlose Bücher