Die Hüter der Schatten
überraschen‹ und hat Phyllis mitgenommen. Angeblich wollte er seine Exfrau am nächsten Morgen anrufen. Er hätte sie nie für so dumm gehalten, daß sie die Polizei einschaltet, sagt dieser Hampelmann. Ich persönlich halte den Typen für einen Sadisten, aber dem Mädchen geht es gut. Phyllis hat mit ihrer Mutter telefoniert. Der Vater hat versprochen, das Mädchen ins nächste Flugzeug nach Santa Barbara zu setzen. Wir konnten den Kerl nicht mal belangen, sondern ihm bloß die Sorgerechtsbestimmungen auseinandersetzen und ihn freundlich bitten, so etwas nie wieder zu tun.«
Leslie stieß erleichtert den Atem aus. Lieutenant Passevoy wiederholte seine Dankes- und Lobeshymnen, doch Leslie hörte ihn gar nicht mehr. Sie kam erst wieder zu sich, als sie irgendwann auf ihrem Stuhl in der Küche kauerte. Der Hörer lag wieder auf der Gabel, und Emily spielte im Wohnzimmer Klavier, immer noch Liszt.
Der Irrsinn, der Leslie aus Sacramento vertrieben hatte, streckte von neuem die Hand nach ihr aus. Und wenn die Konfrontation mit dem Übersinnlichen ihr Angst einjagte – einer erwachsenen Frau, die sich ihrer Feindbilder und Schwachpunkte bewußt war –, was würde das erst bei der vierzehnjährigen, emotional verwirrten Eileen anrichten?
Emily entlockte dem alten Flügel kräftige Akkorde. Sie spielte wundervoll. Leslie blieb einen Moment in der Tür stehen und lauschte. Natürlich war sie ihrer Schwester gegenüber positiv voreingenommen, doch Emily spielte besser als die meisten Konzertpianisten, die Leslie gehört hatte. Das Mädchen legte beim Spielen den Kopf zur Seite wie ein Vögelchen, das auf einem Springbrunnen sitzt, und lauschte den Tönen, die wie ein Wasserfall dahinplätscherten; sie wiederholte die Phrase, und die Töne glitten dahin wie Perlen auf einer Schnur. Dann sah sie Leslie, verdrehte die Augen und unterbrach ihr Spiel.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«
»Habe ich hier ein Buch vergessen? Oder hast du es dir ausgeliehen? Nandor Fodor, Dem Poltergeist auf der Spur …«
Emily starrte ihre Schwester verständnislos an. »Was sollte ich damit anfangen? Ich wußte nicht einmal, daß du ein solches Buch besitzt.«
»Schon gut. Ich dachte ja nur, ich hätte es hier liegen lassen.«
Beim Hinausgehen hörte sie, wie Emily die perlende Tonfolge ein ums andere Mal wiederholte. Ob sie überhaupt lange genug aus ihrer Trance aufgewacht ist, um zu verstehen, was ich sie gefragt habe? Es war ohnehin eine dumme Frage gewesen. Emily las sehr wenig; sie verbrachte jede freie Minute entweder im Ballettstudio oder an ihrem Flügel. Jedem, der es hören wollte, verkündete sie, daß sie Lesen für Zeitverschwendung hielt. Emily hätte ein Buch wahrscheinlich nur dann bemerkt, wenn es auf den Tasten ihres Klaviers gelegen hätte. Oder – aber nur vielleicht –, wenn sie darauf getreten wäre.
Nervös sah Leslie noch einmal in ihrer Aktentasche nach; dann gab sie die Suche vorerst auf. Nach dem Anruf aus Santa Barbara war es ohnehin wahrscheinlich besser, auf die Lektüre eines Buches über Poltergeister zu verzichten.
Sie setzte sich in die Diele und hörte Emily zu. Wieder klingelte das Telefon, und sie nahm rasch ab.
»Leslie Barnes.«
»Bist du das, Alison?«
Leslie runzelte die Stirn. »Welche Nummer haben Sie gewählt? Ich kenne keine Alison«, erklärte sie und legte auf. Sofort schrillte der Apparat wieder, aber diesmal war niemand in der Leitung. »Hallo? Hallo?« wiederholte Leslie. Doch ihre Stimme hallte nicht, wie es bei einer abgebrochenen Verbindung der Fall gewesen wäre. Sie hörte jemanden atmen. O Gott, nicht schon wieder.
»Wenn Sie nicht sofort auflegen«, sagte sie scharf, »melde ich Sie bei der Telefongesellschaft.«
»Das wird dir noch leid tun, du Schlampe«, erklärte eine belegte, nuschelnde Stimme. Dann erklangen ein Klicken und das Freizeichen.
Die Musik hatte aufgehört. Offenbar konnte Emily den Gedanken nicht ertragen, einen Anruf zu verpassen.
»Wer war dran, Les? War das für mich?«
»Nein. Das war mal wieder unser freundlicher Nachbar, der anonyme Spinner«, antwortete Leslie und versuchte, beiläufig zu klingen.
»Du solltest ihn anzeigen«, meinte Emily und schlenderte zu ihrem Flügel zurück.
»Du hast recht.« Leslie rief bei der Telefongesellschaft an, wurde aber nur mit einem Ansageband verbunden, auf dem eine freundliche Stimme sie bat, es am nächsten Morgen ab neun Uhr noch einmal zu versuchen.
Als das Telefon wieder klingelte, mußte Leslie
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