Die Hüter der Schatten
schaltete zwischen den beiden einzigen Stationen hin und her, die klassische Musik sendeten.
Vor dem Haus bremste Leslie und bog in die kurze betonierte Zufahrt ein. Bei ihrem letzten Besuch hatten die beiden Erker in strahlendem Sonnenlicht gefunkelt, nun aber strömte das Wasser an den Fensterscheiben herunter und tropfte aus den Regenrinnen, und das Gebäude wirkte verlassen und trostlos.
»Zumindest finden wir heute heraus, ob das Dach dicht ist«, bemerkte Emily.
»Beschrei es bloß nicht.« In der Diele war es feucht und dunkel. Leslie tastete nach dem Lichtschalter, aber entweder war die Birne durchgebrannt, oder sie hatten keinen Strom. In ein paar Tagen würde das Geschäft perfekt sein; die Sache ließ sich schnell abwickeln, da die Grundbücher bereits bei den vorhergehenden, gescheiterten Hausverkäufen eingesehen worden waren. Dann konnte sie die Stadtwerke und die Telefongesellschaft anrufen und Gas, Strom und Telefon anschließen lassen. Einen Apparat brauchte sie im Büro, einen für ihren Auftragsdienst und einen für ihre Privatgespräche. Ob sie auch in Emilys Zimmer einen Nebenapparat aufstellen lassen sollte? Sie wollte ihre Schwester danach fragen, doch Emily war schon davongeschlendert. Leslie entdeckte sie in dem Raum, den sie das »Musikzimmer« getauft hatte.
»Ich hab’ mir überlegt, deinen Flügel und die Harfe hier aufzustellen, Em. Dieses Zimmer könntest du für dich allein haben. Hättest du hier gern ein Telefon, oder willst du lieber nicht beim Üben gestört werden?«
Ungeduldig bedeutete Emily ihr zu schweigen. Sie legte den Kopf schräg, als lausche sie auf etwas, und einen Moment lang glaubte Leslie ebenfalls, den schwachen, beinahe unhörbaren Klang eines Klaviers – oder war es ein Cembalo? – zu vernehmen, auf dem ein Präludium von Bach gespielt wurde.
In diesem Augenblick sank Emily mit kalkweißem Gesicht zu Boden.
»Das wird mich lehren, nie wieder das Frühstück auszulassen«, sagte Emily. Sie saß auf der Fensterbank und lehnte den Kopf an die regenüberströmte Scheibe.
»Du hast gefrühstückt, ich war doch dabei.«
»Aber ich habe nicht aufgegessen. Ich hätte mir unterwegs ein Hörnchen oder so was kaufen sollen, aber ich hab’s vergessen. Und dann hat Whittington, dieser Spinner, sich über die Ästhetik des Rokoko ausgelassen, was immer das sein soll, und mal wieder kein Ende gefunden. Es wurde knapp für meine Klavierstunde, und Agrowsky kriegt schon einen Anfall, wenn man neunzig Sekunden zu spät durch seine Tür spaziert. Aber Tante Whitty ließ uns einfach nicht aus dem Hörsaal! Am liebsten hätte ich dem Kerl etwas an die Birne geworfen!«
Nach ihrer frühmorgendlichen Lektüre über Poltergeister verspürte Leslie keine Lust, dieses Thema zu vertiefen. »Wie fühlst du dich jetzt?«
»Ich hab’ rasende Kopfschmerzen.«
»In meiner Handtasche sind ein paar Aspirin.«
»Igitt, Tabletten! Wozu soll das gut sein? Ich brauche nur etwas zu essen! Aber du mit deiner ständigen Diät hast wahrscheinlich nicht mal einen Schokoriegel dabei. Oder doch?«
Leslie mußte lächeln. »Zufällig habe ich eine Rolle Pfefferminz bei mir, weil ich am Steuer immer einen trockenen Hals bekomme«, gab sie zurück und kramte in ihrer Tasche. Emily steckte sich zwei, drei Bonbons in den Mund.
»Zucker ist äußerst ungesund«, erklärte sie. »Er zwingt den Körper, Insulin ins Blut auszuschütten, und wenn der Zuckerspiegel dann wieder sinkt, krachst du erst recht zusammen. Wumm! Aber wahrscheinlich immer noch besser, als Aspirin einzuwerfen. Ob der Feinkostladen, den wir drüben in Haight gesehen haben, wohl so was wie ein Sandwich mit Avocado und Ei zustande bringt?«
»Sehr wahrscheinlich«, meinte Leslie. »Wenn du höflich bittest, belegen die Leute es dir bestimmt sogar mit Sprossen, Joghurt, Weizenkeimen und Seetang.« Sie hatte die eigenartigen Kreationen, die Emily ›Bio-Sandwiches‹ nannte, oft genug gesehen.
»Du hättest wohl lieber Schinken mit Salz, Nitraten und Chemikalien«, konterte Emily verärgert. »Du bist Doktor und stopfst dich mit diesem ganzen Müll voll, und wenn ich nicht dasselbe tue, lachst du mich aus!«
»Ich habe doch nur Spaß gemacht, Em. Von mir aus kannst du essen, was du willst, ob Bio-Sandwiches oder Marsriegel. Sollen wir fahren, oder möchtest du dich hinlegen und ausruhen, während ich dir etwas zu essen besorge?«
»Tut mir leid, Les«, sagte Emily und richtete sich auf der Fensterbank auf. »Wahrscheinlich
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