Die Hüter der Schatten
Les?«
»Nein, nein, alles in Ordnung. Ich hoffe nur, daß der Bericht des Architekten bestätigt, daß mit dem Haus wirklich alles in Ordnung ist.«
»Du hörst dich an, als hättest du dich verliebt.«
»Genau das hab’ ich vorhin auch gedacht. Jetzt, wo Joel möglicherweise aus dem Spiel ist, wird dieses Haus vielleicht die Liebe meines Lebens. Eine große Leidenschaft möglicherweise.«
»Naja, diese Art Leidenschaft hat zumindest einen Vorteil«, meinte Emily grinsend. »Sie hängt dir weder einen Tripper noch eine Schwangerschaft an!«
Leslie blinzelte und befahl sich streng, nicht schockiert zu wirken.
»Ich kann es gar nicht abwarten, dieses wunderbare Traumschloß zu besichtigen«, fuhr Emily fort. »Meinst du, wir könnten schon heute dorthin statt am Freitag?«
In Gedanken ging Leslie ihren Terminkalender durch. »Wann hast du heute frei?«
»Um neun Uhr habe ich Musikgeschichte, dann Unterricht bei Agrowsky. Um halb zwei bin ich fertig. Sollen wir uns am Haus treffen, oder könntest du mich vom Konservatorium abholen?«
»Ich komme in die Stadt. Steck mir auch ein Stück Brot in den Toaster«, sagte Leslie, die gerade an der Kaffeemaschine herumwerkte. Genießerisch sog sie den Dampf ein, der von Emilys Tee aufstieg. »Riecht gut. Was ist das?«
»Zitronengras. Möchtest du einen Schluck? Sehr gut für die Nerven. «
»Heute nicht, vielen Dank.« Sie setzte sich auf ihren Stuhl und blinzelte verblüfft. »Oh, du hast ja das Buch gefunden, das ich gesucht habe.«
»Was?« Emily drehte sich um. Auf Leslies Platzdeckchen lag ein schmuddeliges, wasserfleckiges Taschenbuch. Vor einem dunklen Hintergrund und einer Lichterkette, die an die UFO-Sequenz aus Spielbergs Unheimliche Begegnung der Dritten Art erinnerte, prangte der reißerische Titel: Unglaubliche Poltergeister. Bei ihrer Suche nach dem Fodor-Band hatte Leslie ganz vergessen, daß sie dieses Buch ebenfalls gekauft hatte.
»Danke, Em. Aber eigentlich hab’ ich ein anderes Buch gesucht.«
»Bedank dich nicht bei mir«, erwiderte Emily, »denn ich habe den alten Schmöker noch nie gesehen. Glaubst du wirklich, ich würde etwas so Schmutziges auf den Tisch legen?«
»Und wie ist das Buch dorthin gekommen? Ich war das bestimmt nicht«, erklärte Leslie und hob es vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. »Willst du mir weismachen, das Buch sei aufgestanden und gewandelt?«
»Gar nichts will ich dir weismachen. Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, gab Emily zurück. »Was sollte ich mit einem Buch über« – sie reckte den Hals und las den Titel – »Poltergeister«?«
»Emily, falls das ein Scherz ist – ich bin heute morgen nicht in der Stimmung dazu!«
»Was soll der ganze Quatsch?« fuhr Emily auf. »Ich finde das auch nicht witzig.«
»Nun komm schon, Em, sag mir die Wahrheit …«
»Mein Gott, ich sehe das Ding zum ersten Mal! Wieso regst du dich eigentlich so auf?«
»Weil ich weiß, daß ich das Buch nicht auf den Tisch gelegt habe, verflixt noch mal. Und wenn du es auch nicht warst – wer dann?«
Emily knallte ihren Joghurtbecher so heftig auf die Tischplatte, daß er hochsprang und der Rest seines Inhalts sich auf den Boden ergoß. »Vielleicht war es ja einer von deinen bescheuerten Poltergeistern! Du glaubst doch an diesen ganzen parapsychologischen Quatsch, oder?« Emily stürmte aus der Küche und knallte die Flurtür hinter sich zu. Einen Moment später hörte Leslie, wie die Badezimmertür krachend ins Schloß fiel.
Benommen hob Leslie den Joghurtbecher auf, wischte den Fleck auf dem Boden weg und setzte sich, um ihren Kaffee zu trinken. Das Buch schob sie zur Seite. Sie fragte sich, ob sie allmählich den Verstand verlor – und genau diese Frage holte sie auf den Boden der Tatsachen zurück. Zu oft hatte sie dieselbe Frage von ihren Patienten gehört.
Sie formulierte die Antwort, die sie einem Patienten gegeben hätte.
Wie kommen Sie darauf, daß Sie den Verstand verlieren?
Nun ja, da war dieses Buch auf dem Tisch …
Glauben Sie nicht, Sie haben sich das Ganze nur eingebildet?
Zögernd streckte Leslie die Hand aus und berührte das schmierige, fleckige Cover. Nein, das Buch gibt es wirklich. Emily hat es ja auch gesehen.
Eine folie à deux? Nein, Emily stand mit beiden Beinen fest auf der Erde. Und Leslie selbst hatte sich gründlichen psychologischen Untersuchungen unterziehen müssen, bevor sie ihren Beruf ausüben durfte. Sie waren beide geistig gesund. Aber wie lautete dann die
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