Die Hüter der Schatten
emotionalen Problems gedeutet werden. Auf eine bedenkliche Erscheinung bei Poltergeist-Kindern muß noch hingewiesen werden: Die Aufmerksamkeit, die solche eigenartigen Phänomene hervorrufen, kommen mitunter den emotionalen Bedürfnissen des Jungen oder des Mädchens derart entgegen, daß sie von unwillkürlichen Poltergeist-Aktivitäten zur bewußten Manipulation übergehen, nachdem die erste Welle von Erscheinungen verebbt ist. Dann werfen die Kinder verstohlen Porzellan oder andere kleine Gegenstände, streiten dies jedoch ab (manche Kinder können sogar in einem Zustand somnambulischer Dissoziation handeln). Gelegentlich greifen sie sogar zur Brandstiftung. Dies ist natürlich eher ein Thema für den Psychologen oder Therapeuten als für eine parapsychologische Untersuchung. Poltergeist-Phänomene – ob bewußt oder unbewußt hervorgerufen – dürfen niemals ignoriert oder auf die leichte Schulter genommen werden. Selbstverständlich sollte man die Kinder nicht bestrafen, beschämen oder tadeln noch ihnen vorwerfen, die Phänomene vorzutäuschen. Denn die Erscheinungen, ob sie nun auf Hysterie, Somnambulismus oder tatsächliche außersinnliche Kräfte zurückzuführen sind, unterliegen nicht der Kontrolle des Kindes und sind niemals auf bewußten Vorsatz oder »unartiges« Benehmen zurückzuführen. Eine weitere Ausprägung von Poltergeist-Erscheinungen tritt nicht im Umkreis eines hysterischen oder verhaltensgestörten Kindes auf, sondern zentriert sich um einen relativ normal angepaßten Erwachsenen und ist der Ausdruck einer Spannung im parapsychologischen Bereich. In diesen Fällen ist eine unbekannte außersinnliche Kraft in Aktion getreten. Anders ausgedrückt, das Unsichtbare streckt die Hand nach der betreffenden Person aus. Aber dies fällt strenggenommen nicht mehr in das Gebiet, das dieses Buch behandelt.
Außer den hier geschilderten Fällen vgl. auch die bereits genannte Untersuchung von Carrington und Fodor sowie die Monographie von Margrave und Anstey im Journal für unerklärliche Phänomene, Herbst 1983, neu aufgelegt bei Silkie Press, San Francisco, unter dem Titel Naturgeschichte des Poltergeists.
Beeindruckt legte Leslie das Buch aus der Hand. Anscheinend hatte sie instinktiv richtig gehandelt, indem sie Eileen beruhigt, ihr zugleich aber nicht gestattet hatte, den Vorfall zu dramatisieren. Interessant, daß sie in der psychoanalytischen Fachliteratur nichts als freudianischen Quatsch über das Geburtstrauma gefunden hatte, eine inzwischen überholte Theorie. Und hier, in einem reißerisch aufgemachten Taschenbuch, entdeckte sie eine ernsthafte und logische Analyse des Problems und vernünftige Hinweise für den Umgang damit.
Aber warum existierte keine seriöse Fachliteratur über Poltergeister?
Vielleicht gab es solche Untersuchungen ja doch; Leslies Literaturkenntnisse waren keineswegs lückenlos. Oder ihre Kollegen standen diesem irrationalen Gegenstand so erschrocken gegenüber, daß sie das emotionale Bedürfnis empfanden, solche Phänomene zu ignorieren, selbst wenn sie vor ihren Augen geschahen.
Sie las noch einmal den Schlüsselsatz: Anders ausgedrückt, das Unsichtbare streckt die Hand nach der betreffenden Person aus. Aber das fiel, wie der Autor schrieb, nicht unter den Gegenstand seines Buches. Na, sagte sich Leslie, wenn das Unsichtbare – was immer es darstellte; sie haßte derart vage Formulierungen – nach ihr suchte, sollte es sich verdammt in acht nehmen!
Aber mein Unterbewußtsein hat mir auch mitgeteilt, was es von Joel hält. Noch einmal überflog Leslie die Seite ›Personen von niedrigem Status, deren emotionale Bedürfnisse ignoriert wurden … ‹
Ja. Joel war offensichtlich der Meinung, daß Frauen weniger wert sind als Männer, sonst wäre er nicht davon ausgegangen, daß Leslie selbstverständlich ihren Beruf aufgeben würde, um ihn bei seiner Karriere zu unterstützen. Kein Wunder, daß sie ihm den Wein ins Gesicht geschüttet hatte – entweder in einem »Zustand somnambulischer Dissoziation« oder auf andere Weise. Immer noch schreckte sie innerlich vor der unglaublichen Vorstellung zurück, ihr Geist allein könnte ohne Zutun einer physischen Kraft das Glas geschleudert haben.
Sinnlos, diese Gedanken weiter zu wälzen. Leslie würde versuchen, die anderen Quellen aufzutreiben, auf die der Autor sich bezog, selbst wenn sie dazu noch einmal den seltsamen kleinen Buchladen aufsuchen und die Frau mit dem Drudenfuß fragen mußte. In der
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