Die Hüter der Schatten
sich zwingen, die Hand nach dem Hörer auszustrecken.
»Hier Dr. Barnes.« Schaudernd wartete sie darauf, von neuem das unartikulierte Murmeln zu hören, das nichts Menschliches besaß. Statt dessen vernahm sie eine helle, beinahe kindliche Stimme.
»Dr. Barnes? Es ist mir peinlich … aber ich meine, Sie haben gesagt, ich dürfte Sie privat anrufen, wenn was schiefläuft. Ich hab’s wieder getan. Es tut mir so leid, Sie zu stören …«
»Ist schon gut, Judy«, sagte Leslie. Die Stimme gehörte einer der Jugendlichen, die bei ihr in Behandlung waren. Judy Attenbury – magersüchtig. Mit fünfzehn Jahren hatte sie ausgeprägt weibliche Formen entwickelt und war zu stämmig für das Ballett geworden, das sie liebte. Das Mädchen hatte mit einer selbstverordneten Hungerdiät reagiert, fast dreißig Pfund abgenommen und war nun nicht mehr in der Lage, zu einem normalen Eßverhalten zurückzukehren, so sehr es sich auch bemühte.
»Ich hab’s wieder getan, Dr. Barnes. Ich hab’ gefressen. Mom hat keine Ruhe gegeben, bis ich ein bißchen Huhn und Salat genommen habe, und dann habe ich mir noch von dem Kartoffelpüree aufgetan und gefressen und gefressen. Ich konnte einfach nicht aufhören.« Judys Schluchzen klang beinahe hysterisch. »Ich kam mir wie ein Schwein vor, so schrecklich fett. Ich konnte es nicht ertragen, also hab’ ich alles wieder ausgekotzt …«
Gott sei Dank. Ein richtiger Anruf. Ein echtes Problem.
»Davon geht doch die Welt nicht unter, Judy. Zuerst solltest du mit dem Weinen aufhören. Und jetzt möchte ich, daß du mir deine Empfindungen schilderst, als du die erste Portion Huhn genommen hast. Was hat denn deine Mutter dazu gesagt?«
»Sie wollte ja, daß ich esse. Dauernd hat sie mich gelöchert: Iß was, Judy! Iß was! Aber als ich dann mit dem Kartoffelpüree anfing, hat sie gesagt: Entweder du hungerst, oder du übertreibst, Judy. Du findest nie das richtige Maß. Und ich hab’ mich so aufgedunsen gefühlt. Wie ein fettes Schwein …« Judy brach wieder in Tränen aus.
Judys Mutter – trotz ihrer fünfundvierzig Jahre gertenschlank – wurde nicht damit fertig, daß ihre Tochter die Ballettschule nicht mehr besuchen konnte. Es war für sie ein noch größerer Schock gewesen als für das Mädchen. Judy war eine überragende Tänzerin, doch sie besaß einfach nicht den grazilen Körperbau einer Ballerina. Doch ständig hatte die Mutter ihr zugesetzt, sie solle abnehmen.
Es gelang Leslie, Judy zu beruhigen. Sie ließ sich Mrs. Attenbury ans Telefon holen und bat die beiden, morgen gemeinsam zu einer Sitzung zu kommen. Den Rest des Abends verbrachte sie in ihrem Arbeitszimmer und packte Bücher ein. Aber das Buch von Fodor blieb verschwunden.
Am nächsten Morgen stand Leslie früh auf und machte sich von neuem daran, die Bücher aus ihrem Büro in Pappkartons zu packen und diese mit Etiketten zu versehen. Als sie hörte, wie Emily zum Frühstück herunterkam, hatte sie den Fodor immer noch nicht gefunden; inzwischen war sie ziemlich sicher, daß er sich nicht in ihrem Arbeitszimmer befand. Sie hatte sogar im Wagen nachgesehen, um sich zu vergewissern, daß sie das Buch nicht dort vergessen hatte.
Als sie in die Küche trat, war sie mit anderen Gedanken beschäftigt. Sie fragte sich, wo sie Umzugskisten für die Küchengeräte auftreiben sollte, sagte sich dann aber, daß es besser sei, sich nicht zu sehr auf das Haus zu versteifen, ehe sie die Gelegenheit gehabt hatte, sich den Bericht des Architekten anzuschauen. Sie hatte ihn zwar im Büro des Maklers überflogen, und soweit schien alles in Ordnung zu sein. Aber gerade weil das Haus sie derart verzaubert hatte, wollte Leslie das Gutachten noch einmal aufmerksam lesen. Es würde ihr das Herz brechen, sollte der Kauf sich doch noch zerschlagen.
Jetzt weiß ich wenigstens, wo meine Prioritäten liegen. Joel hat seit unserem Streit nicht angerufen, und ich könnte es ihm nicht verübeln, wenn er sich überhaupt nicht mehr meldet. Schließlich habe ich ihm – auf welche Weise auch immer – ein Glas Wein ins Gesicht geschüttet. Und ich rede von gebrochenen Herzen und denke dabei nur daran, daß ich mein neues Haus verlieren könnte. Das sagt wohl genug über meine Beziehung zu Joel.
Emily stand an der Küchenanrichte, rührte löffelweise Weizenkeime in einen Joghurtbecher und nippte zwischendurch an einer Tasse dünnen gelblichem Tee, aus der ein angenehmer Zitronenduft aufstieg. Sie blickte auf. »Stimmt was nicht,
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