Die Hüter der Schatten
Zwischenzeit würde sie sich bei Eileens Poltergeist nach den Anregungen des Autors richten. Aber erst einmal mußte sie sich für das Gespräch mit Judy Attenbury und ihrer Mutter wappnen.
4
Dicke Regenwolken hingen über der Stadt. Als Leslie über die Bay Bridge fuhr, sah sie, daß die Wellen weiße Schaumkronen trugen. Wenn das Wasser hier in der geschützten Bucht so aufgewühlt war, wie mochte es erst auf dem offenen Meer stürmen? Sie hielt vor dem Konservatorium, und Emily sauste durch die ersten prasselnden Regentropfen zum Auto und knallte die Beifahrertür zu. Mit einem Mal kam eine wahre Wasserwand herunter, mit der die Scheibenwischer nicht fertig wurden, und die Böen zerrten so heftig an dem Wagen, daß Leslie kaum steuern konnte. Sie hielt am Straßenrand.
»Das gibt sich gleich. Ein so starker Schauer dauert selten länger als ein paar Minuten«, bemerkte sie und beobachtete die Passanten, die sich eilig vor dem Wolkenbruch in Sicherheit brachten.
»Gut, daß du mich abgeholt hast«, meinte Emily. »Ich hab’ zwar meinen alten Poncho im Rucksack, aber mein Haar wäre klatschnaß geworden. Und dabei bin ich für das Konzert heute abend als Platzanweiserin eingeteilt.«
»Mußt du vorher noch nach Hause?«
»Nein, ich hab’ mein schwarzes Kleid und die hochhackigen Schuhe in einem Schließfach im Konservatorium«, erklärte Emily. »Wir müssen bloß kurz an einem Drugstore halten; meine letzte Strumpfhose hat eine Laufmasche. Mensch, hier war heute morgen eine Aufregung, kann ich dir sagen! Alle Türschlösser werden ausgetauscht. Ein Verrückter ist in den Orchestersaal eingedrungen, hat ein Cello zerschlagen und die Kesselpauken eingetreten, ob du’s glaubst oder nicht!«
Leslie stockte vor Entsetzen der Atem. Vandalismus im Konservatorium, dem friedlichsten Ort in der ganzen Stadt? Beunruhigt dachte sie daran, daß Emily dort ein und aus ging und einem Geistesgestörten hilflos ausgeliefert wäre – denn jemand, der Musikinstrumente zerstörte, die einzig dazu bestimmt waren, Freude zu schenken, mußte psychisch sehr krank sein.
Der Regen ließ nach, und Leslie legte den Gang ein und fuhr los. »Hat man schon Hinweise auf den Täter?«
»Nein. Nichts, überhaupt keine.« Emily zögerte. »Könntest du nicht mal zu uns kommen und versuchen … nun ja, das herauszukriegen?«
Sogar Emily läßt sich von diesem Unsinn anstecken. Leslie wurde die Kehle eng, und Emily bemerkte die veränderte Miene ihrer Schwester. »Tut mir leid, Les. Ich … ich weiß ja, wie du darüber denkst. Es ist nur so, daß ich das Mädchen mit dem Cello kenne. Du hättest sie heute vormittag sehen sollen. Klar, das Instrument ist versichert, aber es hatte ihrem verstorbenen Vater gehört. Wenn ich den Mistkerl in die Finger bekäme, der das getan hat, dann … dann …« Sie hielt kurz inne. »Wahrscheinlich würde ich ihn häuten. Vielleicht ist der Typ krank. Aber wenn ich mit ihm fertig bin, wird er noch viel kränker sein.«
Leslie seufzte. »Einen solchen Menschen zu bestrafen würde zu gar nichts führen. Man müßte herausfinden, was ihn zu seiner Tat bewogen hat … nicht bloß verhindern, daß er so etwas wieder tut, sondern dafür sorgen, daß er es nicht noch einmal tun möchte.«
»Meines Erachtens gehört so ein Kerl in die Klapsmühle, wo er nichts mehr anstellen kann. Besser noch, ein solcher Geisteskranker wäre tot«, gab Emily zurück.
»Die meisten Menschen empfinden so. Deswegen ist unsere Gesellschaft so gewalttätig«, widersprach Leslie. Wenn man Verbrecher bestrafte, überzeugte man sie lediglich davon, daß sie in einer grausamen Welt lebten, und bestärkte sie in ihrem Vorsatz, lieber Gewalt auszuüben als zu erleiden. Aber wie sollte sie Emily das verständlich machen?
»Wenn du aber – na ja, den sechsten Sinn hast, könntest du nicht auf diese Weise herausbekommen, warum Leute so etwas anstellen?« fragte Emily zögernd. »Nimm zum Beispiel den Mann, der in Sacramento die Mädchen umgebracht hat. Den Rattenschwanz-Killer. Den kannst du nicht heilen. Aber wenn du herauskriegst, was ihn dazu gebracht hat, kannst du vielleicht jemand anderen davor bewahren, auch zum Mörder zu werden.«
»Das alles ist bekannt«, entgegnete Leslie finster. »Aber mit Verbrechensprävention kann man nun mal kein Geld verdienen.« Während sie sich durch den Regen kämpfte, der Autos und Straßenbahnen zwang, sich im Schneckentempo zu bewegen, machte Emily sich am Radio zu schaffen und
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