Die Hüter der Schatten
durchaus eine Geschirrspülmaschine oder sogar eine Zugehfrau für ein paar Stunden täglich leisten können. Doch Mrs. Barnes hegte vorgefaßte Meinungen über die normalen Pflichten junger Mädchen und war der Ansicht, Hausarbeit würde Emilys Charakter bilden.
Leslie ging ins Arbeitszimmer, begann die Kisten mit ihren Patientenunterlagen auszuräumen und verstaute sie in dem abschließbaren Aktenschrank. Den Karton mit der Aufschrift SCHREIBTISCH hatte sie so sorgfältig gepackt, daß ihr Arbeitsplatz nach zehn Minuten genauso aussah wie im Haus in Berkeley. Sie hängte ihren Wandkalender auf, legte den Terminplaner an seinen gewohnten Ort und stellte den neuen Telefonapparat hin, ein kleines, cremefarbenes Gerät, das zu den eleganten Tapeten und Fenstern paßte. Zwar wirkte Leslies zerkratzter alter Schreibtisch ein wenig fehl am Platze, doch er würde sich hier schon einfinden, genau wie seine Besitzerin. Irgendwann würde Leslie sich einen modernen Schreibtisch mit allen Schikanen leisten können. Sie trat ans Fenster und genoß den geliebten Blick auf den Himmel und den Pazifik. Das Meer schimmerte, und der Himmel war blau und wies nur wenige Wattewölkchen auf. Die Aussicht erschien Leslie wie ein Willkommensgruß.
Vor Glück seufzend machte sie sich von neuem ans Auspacken.
In einer Kiste, die auf dem Boden des Arbeitszimmers stand, fand sie unter ein paar Büchern Emilys Haarbürsten und ein Sammelsurium von Trikots und Bodys. Der Karton gehörte nicht hierher – er trug auch die eindeutige Aufschrift EMILYS ZIMMER. Leslie machte sich sofort daran, ihn nach oben zu bringen.
Auf dem Treppenabsatz bemerkte sie, daß die Tür zum Schlafzimmer ihrer Schwester weit offenstand. Natürlich, sie hatte ja eben einen Arm voll Kleidungsstücke hineingetragen und sie in Emilys Wandschrank gehängt. Als Leslie die Kiste auf den Boden setzte, huschte ein Schatten durch ihr Blickfeld, und sie sah die weiße Katze, die lautlos über das Fensterbrett und aus dem offenen Fenster kletterte.
Nun, das löste zumindest ein Problem, nämlich die Frage, warum der alte Fensterriegel immer wieder aufgesprungen war. Keine kleinen Strolche, keine zerstörungswütigen Jugendlichen waren hier eingedrungen, sondern eine Katze, die es gewöhnt war, über das Spaliergitter ein- und auszugehen. Das Tier hatte offenbar gelernt, den Riegel zu öffnen, indem es von außen mit der Nase dagegen stupste. Mit der neuen Kette würde das Problem sich von selbst lösen.
Das sanfte Läuten der Türglocke erklang – was für ein angenehmer Gegensatz zu dem durchdringenden Summer in dem Haus in Berkeley –, und Leslie rannte nach unten, um ihre Schwester einzulassen, die eine große Tüte mit Sandwiches trug.
»Laß uns im Garten essen«, schlug Emily vor.
Die Schwestern ließen sich auf der niedrigen Umfassungsmauer nieder und aßen in behaglichem Schweigen. Leslie sah, wie die weiße Katze lautlos um die Ecke der Garage strich. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie eilte ins Haus, suchte in der Küche nach dem Karton mit den Konserven, öffnete eine Dose Thunfisch und gab etwas davon auf eine Untertasse.
»Ich gebe dem Tier was zu fressen«, erklärte sie Emily. »Offensichtlich gehört es hierher. Ich hab’ die Katze vorhin in deinem Schlafzimmer entdeckt.«
Emily, die sich gerade Sprossen in den Mund steckte, schaute ihre Schwester verständnislos an, während sie kaute und schluckte. »Durch das Fenster ist sie jedenfalls nicht reingekommen. Ich habe die Kette vorgelegt.«
»Das kann nicht sein, Emily. Das Fenster stand sperrangelweit offen, und ich habe gesehen, wie die Katze wieder nach draußen geklettert ist.«
Emily zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich hast du es aufgemacht, um zu lüften, und dann nicht mehr daran gedacht. Vielleicht waren es auch die Möbelpacker, als sie mein Bett raufgetragen haben. Da oben kann es ziemlich stickig werden. Apropos Mief – was sollen wir nun mit der Garage anfangen oder dem Atelier oder wie immer man dieses Loch nennen soll?«
»Ich glaube, ich mache ein Nähzimmer daraus. Ich habe die Maschine und Moms alte Schneiderpuppe hineinstellen lassen. Aber der Raum könnte einen neuen Anstrich gebrauchen, ehe wir ihn benutzen«, meinte Leslie. »Ich habe alle Patienten bis Donnerstag vormittag abbestellt, so daß wir uns morgen an die Arbeit machen können. Wir können doch beide gut mit Pinsel und Farbe umgehen.«
Emily rümpfte die Nase. »Hast du mal überlegt, den Raum wieder als Garage zu
Weitere Kostenlose Bücher