Die Hüter der Schatten
Als sie nach oben ging, stand das Fenster in Emilys Zimmer schon wieder offen. Aber der Schlosser hatte den einfachen Fenstergriff durch einen Riegel mit Kette ersetzt. Leslie schloß das Fenster und legte die Kette vor.
»Hast du wegen der Harfe beim Möbellager angerufen?« fragte Emily.
»Das Instrument wird am Mittwoch geliefert. Sag mal, Emmie, möchtest du die alte Kommode mit der gewölbten Front für dein Schlafzimmer?«
»Glaub schon«, gab Emily unbestimmt zurück. »Auf jeden Fall brauche ich eine Vitrine für das Musikzimmer. Ob im Garten wohl Lobelien stehen? Jemand hat mir erzählt, sie wirken ebenfalls beruhigend.«
»Keine Ahnung.« Leslie ging mit ihrer Schwester in den Garten, um zu prüfen, ob der Schlüssel zum Atelier paßte.
»Gehört die weiße Katze eigentlich zum Haus, Leslie?«
»Weiß ich nicht. Aber ich habe sie hier schon ziemlich oft gesehen. Das Tier scheint sich im Garten zu Hause zu fühlen. Komm her, miez, miez, miez«, rief sie leise.
»Wo ist sie denn? Leslie, könnten wir nicht Thunfisch nach draußen stellen?«
»Wahrscheinlich gehört das Tier den Nachbarn, Emmie.«
»Dann haben sie das Kätzchen nicht verdient. Das arme Ding sieht halb verhungert aus. Ich wette, der letzte Besitzer ist weggezogen und hat es einfach im Stich gelassen. Solche Leute sollte man erschießen.«
Emily öffnete die Tür zum Atelier und rümpfte die Nase, als ihr ein Schwall feuchter Luft entgegenschlug.
»Die Katze hat hier drinnen gemacht. Vielleicht sollten wir ihr eine Kiste mit Streu hinstellen. Gut möglich, daß hier früher mal ihr Katzenklo gewesen ist.«
Das würde zumindest den Gestank erklären, dachte Leslie.
»Mach ein Fenster auf und laß uns ordentlich auslüften.«
Eine Schicht schnelltrocknende Farbe in einem freundlichen Ton, überlegte Leslie. Der alte Schaukelstuhl aus dem Haus in Sacramento, die Nähmaschine und die alte Schneiderpuppe. Hier war genug Platz für ein Bügelbrett und einen Tisch zum Zuschneiden. Gelbe Vorhänge, ein strahlendes Sonnengelb. Alles zusammen würde hier Wunder wirken. Sie stellte gerade eine Einkaufsliste auf, als Emily einen Schrei ausstieß. » O Gott, wir haben schon Viertel vor vier. Ich habe gar nicht auf die Uhr geschaut. Du mußt mich unbedingt fahren, Les!«
Vor den verschlossenen Saaltüren drängten sich die Studenten und warteten darauf, daß jemand mit einem Schlüssel kam. Simon Anstey, der die Menge um mehr als Haupteslänge überragte, kämpfte sich nach vorn. Vor Emily blieb er stehen und sah auf das viel kleinere Mädchen hinunter.
»Miss Barnes, ich habe Sie heute morgen spielen gehört. Sie sind noch sehr jung, aber ich würde mich freuen, Sie in meiner Meisterklasse zu sehen.«
Emily schluckte hörbar. »Vielen Dank, Dr. Anstey. Das ist eine große Ehre für mich.«
Anstey sah Leslie direkt an, und das Schweigen zog sich in die Länge. »Meine Schwester, Dr. Barnes«, murmelte Emily schließlich.
Leslie hob den Kopf und erwiderte den durchdringenden Blick aus Ansteys einem Auge. Starrte der Mann sie unverschämt an, oder entstand dieser Eindruck durch seine Sehbehinderung? Zorn stieg in Leslie auf. Schließlich war dieser Mensch unbefugt auf ihren Grund und Boden eingedrungen, nicht umgekehrt. »Ich glaube, wir sind uns schon begegnet, Dr. Anstey.«
Ihr Gegenüber verzog das narbige Gesicht zu einem ausdruckslosen Lächeln. »Ja, ich erinnere mich. Sind Sie Ärztin, Dr. Barnes, oder eine Kollegin von Dr. Margrave?«
»Letzteres. Ich hatte zwar nie das Vergnügen, Dr. Margrave persönlich kennenzulernen, aber ich hörte kürzlich, sie sei Psychologin gewesen. Nun, das ist auch mein Beruf.«
»Ah ja?« Anstey fixierte sie starr. »Ich war mir sicher, daß Alison Margrave Sie als ihre Nachfolgerin auserwählt hatte, und als ich Sie hier sah, hielt ich sie ebenfalls für eine Berufsmusikerin. Zu ihren Lebzeiten war Alison die beste Cembalo-Kennerin der Welt. Sie ist allerdings mehr durch ihre theoretischen Arbeiten über dieses Instrument bekannt geworden als durch ihre kurze Bühnenkarriere. Seit 1953 ist sie nicht mehr aufgetreten. Sie meinte, sie besäße nicht das rechte Temperament, obwohl ich glaube, daß sie sich da irrte. Alisons Transkriptionen von Bach- und Scarlatti-Stücken waren sehr bekannt. Ich war …«, er zögerte kurz, »… eine Art Protege von ihr und kenne das Haus deshalb gut.«
»Tut mir leid, von Musik verstehe ich nicht viel, und ich spiele auch nicht. Emily ist die Musikerin der
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