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Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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Familie.«
    »Ich bin sicher, Alison freut sich, daß Ihre talentierte junge Schwester in das Haus gezogen ist, Dr. Barnes.« Anstey deutete eine Verbeugung an und ging davon. Joel hat von Anstey als Alison Margraves Adoptivsohn gesprochen, ging es Leslie durch den Kopf. Er selbst hat sich als ihr Schützling bezeichnet …
    Leslie wurde abgelenkt, als die Studenten in den nun geöffneten Saal drängten. Leslie und Emily suchten sich einen Platz. Die Jury steckte noch einmal kurz die Köpfe zusammen; dann erhob sich Boris Agrowsky. Bleich und niedergedrückt saß Emily neben ihrer Schwester.
    »Mr. Lenney, Mrs. Paddington und Miss Hadley wurden ausgewählt, um mit Bewerbern aus anderen Musikschulen am fünfzehnten August anzutreten. Außerdem dürfen sich Miss Barnes, Mr. Kalerga-polis – entschuldigen Sie, Kalapergos? Ja, vielen Dank, Mr. Kalaper-gos – und Mr. Stainer für Dr. Ansteys Meisterklasse einschreiben. Danke sehr. Wenn die Kandidaten nach Ende der Veranstaltung bitte nach vorn kommen und ihre Beurteilungen abholen würden …«
    Emily ging an den Tisch und kehrte mit einer Handvoll bekritzelter Blätter zurück. Während sie mit Leslie den Saal verließ, studierte Emily benommen die Papiere.
    »Agrowsky meint, ich sollte mehr an meinem Legato arbeiten. Als ob das was Neues wäre! Das erzählt er mir schon seit Monaten. Und weißt du was? Anstey schreibt, ich hätte ein ausgeprägtes Gefühl für Rachmaninows Musik, ohne dabei sentimental zu wirken.«
    Da hatte er recht. Leslie hatte es genauso empfunden. Aber der Musiker war ein Fachmann, der es wissen mußte. Emily hob zwar auf dem ganzen Heimweg zur East Bay den Blick kaum von den Papieren, sagte aber nichts, und Leslie stellte ihr keine Fragen.

9
     
     
    In ihrer letzten Nacht in dem gemieteten Haus kam Leslie kaum zum Schlafen. Das Telefon schrillte, bis sie bei beiden Apparaten den Hörer abnahm, und zweimal wurde sie durch die Türklingel geweckt. Kurz nach fünf gab sie es schließlich auf und ging nach unten, um den Kühlschrank zu reinigen und ein paar letzte Kleinigkeiten zu packen, die sie im Wagen mitnehmen wollte.
    Im ersten Morgengrauen schickte sie Emily mit dem zweiten Schlüsselbund los, um in dem neuen Haus auf die Anlieferung der Harfe und auf die Spezialfirma zu warten, die den Flügel transportieren sollte.
    Bis Mittag waren die Möbel auf die andere Seite der Bucht geschafft und stapelten sich inmitten eines Chaos aus Kisten und Kartons. Die Möbelpacker hatten die Betten aufgestellt, und Leslie richtete ihr Zimmer halbwegs bewohnbar ein und brachte ihre Kleidung in Schubladen und auf Bügeln unter. Dann trug sie die Kisten mit den Akten aus ihrem Büro in das schalldichte Arbeitszimmer, wo die Männer Schreibtisch, Stühle und Lampen abgestellt hatten. Sie ging in Emilys Schlafzimmer und hängte deren Kleidung in den Wandschrank – wenn Emily wollte, konnte sie ja später umräumen; aber jetzt war es erst einmal das Wichtigste, daß die Sachen nicht länger auf dem Boden lagen. Emily hielt sich natürlich im Musikzimmer auf und war mit der ein Meter achtzig hohen Konzertharfe beschäftigt, die einst ihrer Großmutter gehört hatte. Sie stimmte das Instrument und erneuerte ein paar gesprungene Saiten. Dann hörte sie, daß der Flügel gebracht wurde, und rannte in die Diele, um zuzuschauen, wie die Träger das Instrument durch die Haustür und ins Musikzimmer manövrierten. Die Männer schraubten die Beine wieder an und nahmen die dicke Schutzhülle ab. Emily strich um sie herum wie eine besorgte Mutter, die zusehen muß, wie ihr krankes Kind einer gefährlichen oder schmerzhaften Behandlung unterzogen wird. Als Leslie die Klavierträger auszahlte, hörte sie Arpeggios. Sie kehrte ins Musikzimmer zurück und sah, wie Emily sich mit sorgenvoll verzogener Miene über die Tasten beugte.
    »Hast du einen neuen Klavierstimmer auf dieser Seite der Bucht gefunden, Leslie?«
    Das hatte Leslie nicht. Sie hatte sich noch nicht an den Gedanken gewöhnt, daß für Emily ein Klavierstimmer ebenso zu den Lebensnotwendigkeiten gehörte wie der nächste Supermarkt oder Drugstore. »Meine Güte, Emmie, der Flügel ist doch erst vor weniger als drei Wochen gestimmt worden …«
    Emily zog eine Schnute. »Aber das Instrument ist bewegt worden! Schon gut, mach dir nichts draus«, schloß sie mit dem ergebenen Seufzen einer Märtyrerin. »Im Konservatorium hängt bestimmt eine Liste aus. Wahrscheinlich hat die Sache auch bis morgen

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