Die Hueterin der Geheimnisse
ist nur, dass die anderen den Stammesführern vom Eiskönig erzählen.«
Sebbi lachte nervös. »Ha! Das ist leicht dahingesagt.«
Der Haarige hielt seine Faust Baluch entgegen.
Bramble spürte, wie der Druck der Götter plötzlich abnahm. Er zögerte. Sie sagten ihm, auf wen die Wahl fiel. Er konnte seinen Kameraden womöglich retten, indem er einen anderen Strohhalm nahm, aber damit würde er sich der Wahl der Götter widersetzen. Sie spürte, wie er es überdachte. Was war, wenn der Haarige Recht hatte und die Götter ihr Opfer auserwählt hatten? Vielleicht war es der kurze Strohhalm, den er nach ihrem Willen nehmen sollte. Woher sollte er das wissen? Er gab dem Druck nach und schloss seine Fingerspitzen um den Strohhalm, den ihm die Götter nahelegten, und zog ihn langsam hervor.
Er war lang.
Bramble stellte fest, dass sie beinahe genauso erleichtert war wie Baluch selbst. Mach dich nicht lächerlich!, dachte sie. Du weißt doch, dass er nicht hier sterben wird. Er gründet Baluchston. Aber irgendwie fühlte es sich für sie nicht so an, als lebten sie eine Geschichte, die bereits in Stein gemeißelt worden war. Es fühlte sich vielmehr so an, als habe Baluch eine echte Wahl getroffen, als habe er anders wählen, als habe er hier sterben können.
Acton bedeutete Sebbi, als Nächster zu ziehen, und überließ ihm damit die Wahl. Sebbi starrte ihn zornig an, langte jedoch nach einem Strohhalm. Kurz.
»Ha!«, rief der Haarige. »Die Götter haben gewählt!«
Die Menge tobte erneut. Acton legte Sebbi den Arm um die Schulter. »Ich nehme deinen Platz ein.«
Sebbi schob ihn achselzuckend beiseite. »Die Götter haben mich auserkoren, nicht dich. Mein Tod wird dieses Volk retten.«
Acton nickte respektvoll. »Es ist deine Entscheidung.«
Er und Baluch taten so, als sähen sie den Angstschweiß nicht, der Sebbi auf der Stirn stand.
In der Menge hinter ihnen nahmen die Männer Waffen zur Hand. Speere, Messer, keine Schwerter.
»Ich werde getötet wie ein Tier«, sagte Sebbi leichenblass. »Wie soll ich wiedergeboren werden, wenn ich nicht wie ein Krieger falle?«
Baluch trat auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du wirst direkt zu den Göttern gehen, Seb. Du bist ihr Auserwählter. Natürlich wirst du wiedergeboren werden.«
»Es sei denn, die Opfergabe ist nicht bloß dieses Leben, sondern alle Leben, die ich hätte haben können«, sagte Sebbi.
Darauf wusste keiner der beiden anderen etwas zu entgegnen. Sie blieben stumm stehen und warteten. Baluch kämpfte sowohl gegen Kummer als auch gegen die schreckliche Erkenntnis an, dass sich das Leben so rasch ändern, so tragisch verlaufen konnte. Bramble spürte, dass er sich danach sehnte, zuhause zu sein. Dieses eine Mal erklang keine Musik in seinem Kopf. Dann setzte die Flötenmelodie wieder ein, und er schauderte.
Sebbi bemerkte es. »Sogar jetzt denkst du an Musik?«,
spottete er mit angespannter Stimme. »Was ist los, ist sie nicht harmonisch?«
Baluch schaute ihm direkt in die Augen. »Ich werde eine Lobeshymne auf dich schreiben, und man wird sie bis an das Ende der Zeit singen«, sagte er.
Sebbis Augen erhellten sich. »Ja«, sagte er. »Verhilf mir auf diese Weise zu ewigem Leben, Bal. Wenn sie mir alle meine Wiedergeburten nehmen, sorg du dafür, dass ich in der Erinnerung meines Volkes weiterlebe.«
»Das werde ich«, gelobte Baluch.
Der Haarige trat auf sie zu und nahm Sebbi am Arm, nicht unfreundlich. »Es wird Zeit, Junge«, sagte er. »Komm, du musst gesegnet werden.«
Er führte Sebbi hinüber zu dem Kreis, wo die Männer nun mit ihren Waffen standen.
»Können wir denn nichts unternehmen?«, flüsterte Baluch zu Acton.
Acton schüttelte den Kopf, den Blick auf Sebbi geheftet. »Ich weiß nicht, ob wir es überhaupt versuchen sollten. Vielleicht ist es wirklich das, was den Eiskönig aufhält. Das Wichtigste ist jetzt, dass wenigstens einer von uns zu der Versammlung zurückkehrt.«
Seine Stimme klang unerbittlich. Da!, dachte Bramble mit seltsamer Erleichterung. Das ist der Eindringling. Bereit, andere für seine eigenen Zwecke sterben zu lassen.
Der Haarige machte Anstalten, Sebbi die Kleider auszuziehen, doch Sebbi kam ihm zuvor und zog sich rasch selbst aus. Baluch trauerte um ihn, merkte sich dennoch jede Einzelheit, damit er sie später in ein Lied einarbeiten würde können: wie Sebbi aufrecht vor der Menge stand, der Respekt, den er bei den Zuschauern damit hervorrief, als er sich selbst entkleidete, die
Weitere Kostenlose Bücher