Die Hueterin der Geheimnisse
Küste durchkämpfen, vorbei an Gruppen von Angreifern aus dem Norden, und als sie sie erreicht hatten, waren die Buchten noch immer eisbedeckt. Mitten im Sommer. Sie konnten die Boote nicht aussetzen.«
»Es ist der König«, sagte Baluch. »Er führt den Winter mit sich.«
»Erzähl es mir«, sagte Asa. Die anderen scharten sich um sie, um zuzuhören. Doch bevor er berichten konnte, kam ein Mann in die Halle gerannt. Er war hochaufgeschossen und hatte borstiges Haar in der gleichen Farbe wie Sebbis. Er war vielleicht drei oder vier Jahre älter. Sein Gesicht war blass, und er ließ seinen Tränen freien Lauf.
»Du hast meinen Bruder getötet!«, warf er Acton vor.
»Nein, Asgarn«, unterbrach ihn Baluch. »Sebbi wurde von den Göttern dazu auserwählt, den Tod eines Mannes zu sterben. Ein heldenhafter Tod, von dem noch nach vielen Generationen unseres Volkes in Liedern und Geschichten erzählt werden wird.«
Asgarn zögerte und schaute Acton an, der anfing zu beschreiben, was sie im Tal des Eiskönigs gesehen hatten.
Als Acton in seiner Erzählung bei Sebbis Tod angelangt war, sagte Ragni: »Seine Mutter sollte erfahren, dass er als Held gestorben ist«, und sie humpelte aus der Halle. Dabei sah sie so alt aus wie die Zeit selbst.
Als Acton geendet hatte, herrschte eisiges Schweigen in der Halle. Asgarn wandte sich ab und zog die Schultern hoch.
»Er war doch noch ein Junge«, flüsterte er, aber in der Halle war es so still, dass seine Worte in ihr widerhallten.
»Er ist als Mann gestorben«, versicherte ihm Acton.
»Für nichts! Du sagst doch, dass das Eis trotzdem kommen
wird.« Mit geballten Fäusten stürzte er aus der Halle. Schweigend schauten sie ihm hinterher.
»Der Eiskönig begräbt alles unter sich«, sagte Baluch. »Die, von denen er es nimmt, müssen woanders hin.«
Diese Worte lösten allgemeines Gemurmel aus, doch eine Frage kehrte dabei ständig wieder. Acton fasste sie für alle in Worte.
»Gegen die Eindringlinge können wir uns verteidigen, aber wenn die Seewege das ganze Jahr über unpassierbar sind, wie können wir dann Handel treiben? Ohne Handel werden wir verhungern.«
Asa grübelte darüber nach. »Es gibt einen Weg über die Berge«, sagte sie schließlich. »Dort leben Menschen. Wo Menschen sind, kann Handel getrieben werden.« Sie schaute Acton an und lächelte schief. »Ich glaube, es wird Zeit, dass du deinen Onkel kennen lernst.«
Bramble verstand allmählich, was die Götter ihr zeigten. Nicht einfach nur Actons Leben, sondern dessen Wendepunkte. Die schicksalhaften Momente. Erneut stellte sie sich die Frage, ob sie versuchen sollte, die Geschehnisse zu verändern, denen sie beiwohnte, doch abermals regten sich die Götter in ihr und übten gewaltigen Druck aus. Was geschehen ist, muss geschehen , beharrten sie, und Bramble überließ sich dieser Gewissheit irgendwie erleichtert, während das Wasser sanft anstieg und sie davontrieb. Also gehen wir den Onkel besuchen, dachte sie.
»Wirf!«, schrie jemand, und sie spürte, wie ihr Körper mit dem rechten Arm weit ausholte und etwas warf. Dann noch einmal. Dieses Mal spürte sie einen glatten Schaft in ihrer Hand, und ihre Augen gewöhnten sich gerade noch rechtzeitig an das Licht, um seine Flugbahn verfolgen zu können. Der Speer stieg steil hoch, beschrieb einen makellosen Bogen
und landete dann im Rücken eines Mannes. Blut spritzte auf.
Plötzlich nahm sie das Gebrüll und Geschrei, das einer bewaffneten Gruppe von Angreifern entgegengeschleudert wurde, wahr. Diejenigen, die ihre Speere geworfen hatten, hämmerten nun mit ihren Schwertern gegen die Schilde. Der Trupp Männer befand sich unter ihnen an einem Hang, und obwohl auch sie ihre Speere schleuderten, erzielte keiner von ihnen die gleiche Wirkung wie der, den Baluch geworfen hatte - es war doch Baluch, oder? Nein, in seinem Kopf war keine Musik. Es war jemand anders, der auf der Felskante tänzelte und sein Schwert wild hin und her schwang. Die Schar der Angreifer bestand aus rothaarigen Kriegern, die Bramble an jene Männer erinnerte, die Sebbi zerstückelt hatten.
Aus den Augenwinkeln des Mannes sah sie Acton und Baluch. Acton rief etwas und hämmerte mit seinem Schwert gegen das Schild. Baluch war besonnen, schlug sein Schwert mit größerer Leichtigkeit und achtete darauf, sicheren Halt unter den Füßen zu haben. Acton stieß einen freudig erregten Schlachtruf aus, woraufhin der Mann sich ihm grinsend vor Begeisterung zuwandte.
»Genau, Junge!«,
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