Die Hueterin der Geheimnisse
jemals getan hatte. Für den Fall der Fälle zog er sich die Kapuze seiner Jacke über den Kopf. In dem dämmrigen Licht fühlte er sich völlig entblößt, so als seien tausend Augen auf ihn gerichtet.
Aber sie gelangten ohne Zwischenfall auf den Pfad und setzten ihren Weg leise an dem Gehöft vorbei fort. Es war noch so früh, dass die Hunde noch schliefen, doch als sie das Gehöft passierten, wachte einer von ihnen auf und bellte. Mit seinem Gebell weckte er die anderen auf, sodass ein ganzer Chor von Jaulen und Kläffen erklang. Die Tür des Bauernhofs schlug auf, und die Silhouette eines Bauern mit der Axt in der Hand kam in ihrer Öffnung zum Vorschein. Ash erstarrte, doch Flax hob eine Hand.
»Morgen«, rief er leutselig. »Tut uns leid, wenn wir dich aufgeweckt haben!«
Zögernd hob der Bauer ebenfalls eine Hand, um den Gruß zu erwidern. Ash zwang sich dazu, Mud weiter im Schritt gehen zu lassen und sich Cams Gangart anzupassen. Er bewegte den Kopf nicht - da er die Kapuze übergezogen hatte, konnte der Bauer weder sein Haar noch seine Augen sehen und würde nicht erkennen, dass er Wanderer war. Flax’ hellbraunes Haar war in dem heller werdenden Licht deutlich zu sehen, und Ash hoffte, dass sie damit durchkommen würden.
Der Bauer stand da und kratzte sich am Kopf. Er beobachtete sie, bis sie über die Grenze des Hofs geritten waren, wo das wilde Gestrüpp anfing, aber das war normal. Jeder Bauer würde sich Fremden gegenüber so verhalten. Allerdings …
»Schau dich um«, sagte Ash. »Kannst du ihn sehen?«
Flax warf einen flüchtigen Blick über seine Schulter. »Mist und Pisse!«, fluchte er. »Jemand reitet in die andere Richtung los.«
»Sie haben eine Wache aufgestellt, falls wir diesen Weg nehmen«, sagte Ash. Sein Herz schlug schneller, und er spürte, wie die Angst seinen Magen zusammenkrampfte.
Sie trieben die Pferde zu einem leichten Galopp an und behielten diese Geschwindigkeit, so lange sie wagten, bei.
Dann aber wurde der Pfad zu steil und kurvenreich dafür. Es brachte nichts ein, auf den Pfaden abkürzen zu wollen, auf die sie stießen. Nun war es ein Rennen - sie mussten um den Felsvorsprung herum sein, bevor sie erwischt wurden. Sie mussten vor Einbruch der Nacht aus dem Golden Valley heraus sein, oder würden es nie verlassen.
Den ganzen Morgen über kletterten sie bergauf und nach Süden in buschigen Wald hinein, dessen Boden mit Felsen übersät war wie Kröten mit Warzen. Sie hielten lediglich an, um die Pferde ruhen und trinken zu lassen. Zu essen hatten sie nichts mehr, sodass sie ihre leeren Bäuche mit dem kalten Wasser aus den Wasserläufen füllten, was dazu führte, dass Ash noch mehr Hunger verspürte. Er hatte Hoffnung, zumindest glomm ein kleiner Hoffnungsschimmer in ihm. Wenn es ihnen bloß gelang, sich bis zum Einbruch der Nacht einen Vorsprung zu bewahren …
»Da sind sie!«, erklang in diesem Moment ein Ruf hinter ihnen. Sofort stieß Flax einen Pfiff aus, kauerte sich auf Cams Rücken zusammen und trieb das Pferd erneut schneller voran. Er drängte es auf dem schmalen Pfad erst zu einem leichten Galopp und dann zu einem Handgalopp. Ash wurde völlig überrascht, als Mud begeistert auf den Pfiff reagierte und Cam auf dem Pfad folgte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich festzuklammern, während die Pferde den sich schlängelnden Pfad entlanggaloppierten. In der Hektik rutschte ihm die Kapuze herunter.
»Schnappt sie euch!«, ertönte ein Ruf hinter ihnen. »Dieser schwarzhaarige Bastard hat meinen Freund umgebracht!«
Ash erkannte Horsts Stimme. Horst. Nicht irgendein namenloser Verfolger, sondern sein persönlicher Feind. Aber warum war er noch immer hier? Schockiert begriff er, dass es erst ein paar Tage her war, dass er den Mann des Kriegsherrn getötet hatte. Horst war für das Ritual des Wiedergangs
seines Freundes geblieben, das - o Götter, war es morgen oder heute? - stattfinden würde. Sullys Geist würde erscheinen und ein Eingeständnis sowie Wiedergutmachung von Ash, seinem Mörder, einfordern. Es war seine Pflicht, dabei anwesend zu sein, um dem Geist seinen ewigen Frieden zu geben.
Doch das konnte er nicht. Er hatte andere, wichtigere Pflichten zu erfüllen; er musste das Bild von Sully verdrängen, der von jenseits des Todes zurückkehrte und feststellte, dass sein Mörder nicht an Ort und Stelle war. Statt seiner würde er seinen Freund vorfinden - seinen Freund, der mehr auf Rache bedacht war als darauf, bei der Wiedergeburt
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