Die Hueterin der Geheimnisse
nach zu urteilen, war es nicht mehr lange bis Mitternacht. Mitternacht in der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche an den Sternen zu erkennen war etwas, das jede Wanderin von ihrer Mutter beigebracht bekam. Martine fragte sich nicht zum ersten Mal, was bei der Herbst-Tagundnachtgleiche eigentlich geschah. Das Ritual dort war den älteren Frauen vorbehalten, Frauen, die den Wechsel durchgemacht und das gebärfähige Alter hinter sich gelassen hatten.
Ich werde es noch früh genug herausfinden, dachte sie mit schiefem Lächeln. Noch zehn, vielleicht fünfzehn Jahre, und ich werde das nötige Alter erreicht haben. Ausgeschlossen von den Frühlingsritualen, Teilnehmerin an denen des Herbstes. Ein Teil von ihr fand dies bedrückend, ein Teil tröstlich. Etwas, das man erreichen konnte, etwas, bei dem Alter eine große Rolle spielte. Alte Frauen kehrten kichernd und grinsend von der Herbst-Tagundnachtgleiche zurück, strebten danach aber nicht die Gesellschaft von Männern an.
Martine und Zel gingen zum Altar, wie sie es auch in der Nacht zuvor getan hatten, dieses Mal mit ein wenig sichererem Schritt. Martine hatte nicht den Eindruck, als
nehme ihnen der See das Ritual übel, hatte jedoch das Gefühl, als schaue er ihnen zu. Heute Abend war Zel damit an der Reihe, den Feuerstein zu besorgen, und Martine damit, den Schlagstein zu halten.
Das Häufchen Birkenpilz fing sofort Feuer, und das Ritual nahm seinen Verlauf wie schon während des vergangenen Abends. Doch wie immer beim zweiten Abend brannte das Anmachholz langsamer und war Martines Erregung stärker, ihr Verlangen intensiver. Sie gab sich dem Feuer unbeschwerter hin, schloss die Augen und gab ihren Körper, wenn nicht gar ihren ganzen Geist, damit er fühlen konnte, was immer er fühlen wollte. Begehrt, so kam sie sich vor. Das war ein großes Geschenk. Ganz gleich wie sie aussah, jede Wanderin wusste tief in ihrem Inneren, dass sie begehrenswert war, weil er sie begehrte. Häufig waren die unscheinbarsten Frauen die glühendsten Verehrerinnen des Feuergottes.
Während das Feuer allmählich erlosch und Martine fröstelte und wieder einen klaren Kopf bekam, fragte sie sich, was sie da eigentlich taten. Das Ritual war keine Anbetung. Dafür war der Kontakt zwischen Feuer und Frau zu innig. Sie sprachen nicht einmal von dem Feuer als Gott, lediglich als »er« oder »ihn«. Aber er gab, und sie nahmen, sie gaben, und er nahm. War das einfach ein Handel, abgeschlossen und eingehalten? Oder ging die Sache tiefer? Die alten Frauen sagten, das Ritual hielte die Domänen im Gleichgewicht. Die Frauen zum Feuer, die Männer zum Wasser, flüsterten sie. Manchmal sprachen sie leise darüber mit ihrem Steinedeuter, sodass Martine Dinge erfahren hatte, die junge Frauen im Allgemeinen nicht wussten, und die Steine hatten ihr im Flüsterton das Gleiche gesagt, viele Male im Lauf der Jahre.
Mit dem Ritual ging auch Heilung einher. Frauen, die vergewaltigt
worden waren, führte man ganz dicht an das Feuer heran, und er heilte sie, brannte den Abscheu vor Männern oder den Hass auf sie oder die Selbstbeschuldigung weg. Er befreite sie, damit sie wieder fühlen und lieben konnten. Das war ein großes Geschenk. Jenes eine Mal, als Wanderinnen versucht hatten, eine Frau von Actons Blut dem Feuer vorzustellen, war dies aus Mitgefühl für sie geschehen, weil sie von einer Angreiferschar aus der benachbarten Domäne vergewaltigt worden war, zu den Zeiten, als alle Kriegsherren einander bekämpften.
Das Feuer war mittlerweile sauber heruntergebrannt, und der Altar sah aus wie unberührt. Das war stets ein gutes Zeichen, ein Zeichen dafür, dass er zufrieden mit ihnen war. Bei diesem Gedanken errötete Martine vor Dankbarkeit und lächelte dann in sich hinein. Wie ein junges Mädchen bei ihrer ersten Liebe. Nun, das Feuer war die erste Liebe von allen. Bei einigen Frauen blieb es die einzige Liebe. Manche kamen nie über ihre erste Frühjahrs-Tagundnachtgleiche hinweg. Nie fanden sie Befriedigung bei einem Mann, zogen die Intensität ohne Erfüllung der Begegnung aus Fleisch und Blut vor, die nach ihrem Empfinden nie an die Erfüllung durch ihn herankam. Andere gingen den entgegengesetzten Weg, klammerten sich an Fleisch und Blut und wiesen das Feuer zurück, hielten sich von dem Ritual fern, vor allem jene, die insgeheim Frauen den Männern vorzogen. Zel hatte gesagt, ihre Mutter sei so gewesen, so besessen von ihrem Mann, dass sie kein Interesse an dem Ritual hatte und Zel nur jenes eine
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